Wolfgang Ischinger, Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, und Christoph Heusgen (Vorsitzender des Stifterkreises) lancierten ihren Vorschlag am 5.10.21 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung („Außen- und Entwicklungspolitik aus einem Guss“). Ihre vereinfachte Fehleranalyse lautet: Die afghanischen Regierungen hätten trotz ausländischer Unterstützung nicht das Vertrauen der Bevölkerung gewonnen, sich untereinander bekämpft und persönliche Interessen verfolgt. Entwicklungsgelder müssten künftig stärker politisch konditioniert, also an gute Regierungsführung und Korruptionsbekämpfung gebunden werden. Das gelte auch für die Sahelregion, insbesondere Mali. Das Außen- und Entwicklungsministerium möchten sie nach britischem Vorbild unter einem Dach integrieren. Allerdings wird die Gründung des „Foreign, Commonwealth and Development Office“ im Vereinigten Königreich von vielen sehr kritisch bewertet, zumal auf die Fusion eine spürbare Kürzung der Entwicklungsgelder folgte. Hierzulande sehen NGOs - darunter auch Brot für die Welt - die Existenz eines eigenständigen Entwicklungsministeriums als großen Vorteil, denn so kann eine Person mit Kabinettsrang die globale Dimension sozialer Gerechtigkeit in die Regierung einbringen und auf die Wirkungen deutscher Politik für Benachteiligte in anderen Weltregionen hinweisen. Die britischen Erfahrungen deuten darauf hin, dass eine Zusammenlegung eher Zersplitterung von Expertise statt Kohärenz erzeugt. Politikkohärenz sollte nicht durch die Fusion von Ressorts, sondern durch eine Intensivierung der Zusammenarbeit angestrebt werden, etwa durch einen Staatssekretärsausschuss für nachhaltige Entwicklung unter Federführung des Kanzleramtes.
Die Analyse von Heusgen und Ischinger greift viel zu kurz
Der Beitrag von Ischinger und Heusgen vermittelt den Eindruck, der Einsatz am Hindukusch sei wegen mangelnder Abstimmung zwischen dem Auswärtigen Amt und dem BMZ gescheitert und letzteres benötige mehr politische Führung. Bei dem unvorbereiteten Abzug, der Zig-Tausende schutzlos zurückließ und einem Verrat an demokratischen Akteuren und an der neu entstandenen Zivilgesellschaft gleichkommt, haben allerdings alle relevanten Bundesministerien gleichermaßen versagt: die Ressorts für Auswärtiges und Inneres, Entwicklung und Verteidigung, und auch dem Kanzleramt war das Schicksal von Ortskräften und sonstigen gefährdeten Personen offenbar nicht besonders wichtig. Die Analyse der beiden Sicherheitspolitiker greift viel zu kurz. Auffällig ist, dass die Sicherheitspolitik, die Rahmenbedingungen für Humanitäre Hilfe, Friedens- und Entwicklungszusammenarbeit schaffen sollte und gleichzeitig Krieg gegen Extremisten führte, also mit völlig unvereinbaren Zielen unterwegs war, keiner kritischen Reflexion unterzogen wird. Wenn man sich auf „Lehren“ aus Afghanistan beruft, sollte man das deutsche und westliche Engagement doch in allen relevanten Dimensionen ausleuchten.
Lernen aus Afghanistan – Berlin Peace Dialogue (7.10.21)
Ernstzunehmende Impulse für eine Aufarbeitung kamen bislang nur aus Forschungseinrichtungen (siehe Sondergutachten und Website des „Friedensgutachtens“) und aus der Zivilgesellschaft. Das wurde beim Berlin Peace Dialogue am 7. Oktober deutlich. Die Tagung wurde vom zivilgesellschaftlichen Beirat Zivile Krisenprävention ausgerichtet, der die Bundesregierung bei der Umsetzung ihrer Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ (2017) berät. Fachleute aus dem In- und Ausland diskutierten zum Thema: „Lernen für den Frieden: wie können wir aus Scheitern lernen?“ Afghanistan war ein ausführlicher Block gewidmet. Die Einschätzungen dazu lassen sich so zusammenfassen:
- Das Vorgehen in Afghanistan war inkonsistent und inkohärent
Das Vorgehen der westlichen Verbündeten wurde als inkonsistent beschrieben. Die Entscheidung, frühere Warlords (Akteure, deren Einfluss unter der Talibanherrschaft zurückgedrängt worden war) an der Regierung zu beteiligen, habe Bemühungen, das Land politisch zu einen, untergraben. Korruption und Betrug haben zusätzlich das Vertrauen der Bevölkerung in politische Strukturen zerstört. Die militärische Präsenz, die einerseits Kampfeinsätze gegen Al Quaida und Taliban beinhaltete, zum anderen den Wiederaufbau absichern sollte, sei mehr und mehr als Besatzung empfunden worden. „Krieg und Entwicklung passen nicht zusammen“, lautete die Schlussfolgerung eines politischen Entscheidungsträgers, und dass man das viel früher hätte einsehen und Konsequenzen daraus hätte ziehen müssen. „You cannot solve a conflict like Afghanistan with military means“, stellte ein anderer fest. Die Unvereinbarkeit der Ziele (Antiterrorkampf, Stabilisierung, Entwicklung usw.) wurde immer wieder betont, und dass es maßgeblich ein militärisches Scheitern war, das die Beteiligten jedoch über einen viel zu langen Zeitraum hin nicht wahrhaben wollten. Die Verantwortlichen hätten sich in „Echokammern“ bewegt, mit den immer gleichen Argumenten und Perspektiven, ohne dazuzulernen. Dabei mangelte es nicht an Material zur Korrektur. Die norwegische Regierung hatte schon 2013 bei einer unabhängigen Kommission eine Studie in Auftrag gegeben, die das Vorgehen der westlichen Verbündeten in Afghanistan insgesamt als inkonsistent und inkohärent bewertete. Schon 2015 hatte der Europäische Rechnungshof eine kritische Evaluierung zur EU-Polizeimission in Afghanistan vorgelegt und empfohlen, diese angesichts der desolaten Sicherheitssituation zu beenden. Fazit: Es mangelte nicht an Fakten und Analysen für eine differenziertere Lagebeurteilung, sondern an der Bereitschaft, daraus angemessene Schlüsse zu ziehen.
- Fehlende Kontextanalyse und falsche Prioritäten
Darüber hinaus habe man den regionalen Kontext nicht hinreichend analysiert und die Politik Pakistans gegenüber Afghanistan vernachlässigt. Dass die afghanische Regierung nicht an den Verhandlungen in Doha beteiligt war, habe Friedensbemühungen erschwert, weil damit für die Taliban jeglicher Anreiz, sich auf ein Powersharing-Modell einzulassen, schwand. Auch dass ein Mehrfaches an Mitteln in den Militäreinsatz investiert wurde, verglichen mit den Ausgaben für zivilen Aufbau und Entwicklung, wurde kritisiert. Gleichzeitig seien die Strategien für Aufbau und Demokratisierung von unrealistischen und überzogenen Erwartungen geprägt gewesen; eine realistische Vision hätte gelautet: „Change Afghanistan into something like Tadschikistan, but it was like: change Afghanistan into something like Denmark.“ Der Versuch, sogenannte westliche Werte und Politikvorstellungen im Rahmen des Nationbuilding in eine kulturell völlig andere Weltregion zu übertragen, sei gescheitert, und zudem deutlich geworden, dass man in einem dezentral organisierten Land nicht zentralistische Formen von Politik und Verwaltung etablieren könne.
- Evaluierung von Auslandseinsätzen ist zwingend
Eine wichtige Erkenntnis aus der Beiratskonferenz lautet: Auslandseinsätze - vor allem auch Bundeswehreinsätze - müssen fortlaufend und ressortübergreifend evaluiert werden. Nur so kann festgestellt werden, a) ob die Ziele realistisch und vereinbar sind, und b) welche Maßnahmen und Strategien geeignet sind, sie zu erreichen, und wann beide angepasst werden müssen. Nur so kann auch gewährleistet werden, dass Mittel für die Dinge ausgegeben werden, die der betroffenen Bevölkerung am meisten nützen. Die norwegische Regierung hat aus dem Untersuchungsbericht, der die Dilemmata des Afghanistan-Einsatzes beschrieb, unmittelbar Konsequenzen gezogen. In Deutschland haben NGOs und (einige wenige) ParlamentarierInnen eine solche systematische Auswertung über Jahre hin immer wieder vergeblich gefordert. Also: Statt etablierte Ressortstrukturen zu zerschlagen und einzelne Ministerien zu fusionieren, sollten die neugewählten politischen Mandats- und Entscheidungsträger umgehend eine ehrliche Aufarbeitung der Einsätze in Afghanistan auf den Weg bringen und ressortübergreifende Mechanismen für institutionelles Lernen etablieren.
Untersuchungsausschuss plus Enquetekommission
Als Grundlage dafür wird zum einen ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss benötigt, der die Versäumnisse der Ressorts (für Auswärtiges, Inneres, Verteidigung und Entwicklung usw.) beim Schutz von Partnern und Ortskräften aufklärt. Zum anderen sollte eine Enquetekommission mit der Auswertung des übergeordneten Kontextes beauftragt werden und zur Beantwortung folgender Fragen beitragen: Ist es realistisch, wenn externe Akteure in entfernten Weltregionen gleichzeitig Kriegseinsätze durchführen und parallel Maßnahmen für Wiederaufbau, Entwicklung und Demokratisierung anstreben? Wie wurde der regionale Kontext analysiert, und wie wurden die eigenen Einflussmöglichkeiten reflektiert? Welche Veränderungen (Kommunikationsstrukturen, Kooperationen und Evaluierungsstandards) sind erforderlich, um Regierungshandeln zukünftig kohärenter zu gestalten? Die wichtigste Frage aber lautet: Welche Alternativen gibt es zum militärischen Umgang mit Extremismus? Um solche grundlegenden Fragen zu stellen, muss eine Untersuchungskommission aus unabhängigen ExpterInnen zusammengesetzt sein.
Friedenspolitik aus einem Guss
Nicht nur das Engagement in Afghanistan, sondern auch die Erfahrungen im Sahel sollten gemeinsam mit NGOs (INGOs und vor allem auch zusammen mit lokalen AktivistInnen und Thinktanks) ausgewertet werden. Dabei sollten nicht nur entwicklungspolitische Maßnahmen angeschaut werden, sondern auch der Gesamtkontext der von ausländischen Akteuren im Sahel etablierten Einsätze. Es gibt klare Indizien dafür, dass sich die vielfältigen Missionen und sicherheitspolitischen Initiativen diametral widersprechen. Deren Mandate sind teilweise für die dortige Bevölkerung und Zivilgesellschaft auch immer weniger nachvollziehbar und ausländische Militärpräsenz trifft auf immer weniger Akzeptanz. Vor allem sollten sogenannte „Ertüchtigungsmaßnahmen“, die von Deutschland und anderen EU-Mitgliedstaaten zur Ausbildung und Ausrüstung von Streitkräften durchgeführt werden, auf den Prüfstand gestellt werden (siehe dazu die neue Studie von Saferworld). Diese Militärhilfen gehen vielfach mit unrealistischen Erwartungen und problematischen Nebenwirkungen einher, und sie stärken bisweilen Akteure, die Menschenrechtsverletzungen begehen oder sich an Umstürzen beteiligen (z.B. in Mali). Eine umfassende Auswertung gescheiterter und laufender Einsätze würde kohärente Politik begünstigen. Statt über die Abschaffung des BMZ nachzudenken, sollte die zukünftige deutsche Regierung eine Außen-, Sicherheits-, Entwicklungs- und Migrationspolitik „aus einem Guss“ formulieren und Friedenspolitik zur Chefsache erklären. Daraus könnte man dann klare Vorgaben für die Ressorts ableiten. Die Politik muss sich am “do no harm"-Grundsatz orientieren und Schaden vermeiden. Diesem Ziel haben sich deutsche Regierungen mit ihren Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ 2017 explizit verpflichtet.