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Polizeigewalt gegen friedliche Proteste

Die kolumbianische Polizei und ihre berüchtigte Sondereinheit ESMAD haben eine führende Rolle bei den kontinuierlichen Menschenrechtsverletzungen der vergangenen Monate inne.

Von Wolfgang Seiß am
Memoria

Im Gedenken an die Polizeigewalt

Anfang Juni fand ein kurzer Besuch der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) in Kolumbien statt, um den im Vorfeld sehr gerungen wurde. Ihren Bericht mit insgesamt 41 Empfehlungen legte sie am 8. Juli vor. Eine heftige Erwiderung der kolumbianischen Regierung war die Reaktion. Insbesondere die Empfehlung der Trennung der Polizei vom Bereich des Verteidigungsministeriums stieß auf schroffe Ablehnung.

In der Reaktion der kolumbianischen Regierung hieß es, dass „im Artikel 218 der Verfassung von 1991 festgelegt wurde, dass die Nationalpolizei, „ein dauerhaft bewaffneter Apparat zivilen Charakters sei.“ Insofern sei die Aussage der Kommission, wonach die Polizei eine militärische Ausrichtung habe, falsch. Zudem benütze die Polizei bei Demonstrationen keine Feuerwaffen, lediglich Helme, Knüppel und Schilder. Eine reduzierte Anzahl von Schusswaffen würde als Schutz für den Fall mitgeführt, in dem Proteste durch gewalttätige Akte Dritter (!) beeinträchtigt würden.

Als Drittes würde die Sondereinheit ESMAD (mobile Schwadron zur Aufruhrbekämpfung) nur dann zum Einsatz kommen, wenn gewalttätiger Aufruhr festgestellt würde, der die Kapazität der Polizeieinheiten übersteige. Selbst dann würden keine Schusswaffen zum Einsatz kommen.

Zudem habe das Gericht in Bogota Ende Juni in einem Urteil ausgeführt, dass der Einsatz von Waffen wie „VENOM“ verfassungskonform sei. Diese Waffen werden als weniger tödlich eingestuft, da sie „keine direkte Einwirkung auf die Bevölkerung ausüben und ihr Einsatz zudem vollständig geregelt sei.“

Insbesondere der VENOM Mehrfachraketenwerfer ist aus menschenrechtlicher Sicht zu verurteilen, wie bereits Human Rights Watch ausführte: Mit ihm können bis zu 36 unterschiedliche Granaten (Schreck, Tränengas, Blend) abgefeuert werden. Er wird auf Fahrzeuge montiert oder vom Boden aus abgefeuert. Bei den jüngsten Protesten wurde er direkt auf Protestierende gerichtet, Zeugenaussagen (und vorliegende Beweismittel) zeigen, dass auch Hülsen mit nagelähnlichen Patronen benutzt wurden. Ein kontrolliertes Abfeuern ist kaum möglich. Die Regierung verschwieg auch in ihrer Antwort an die CIDH, dass das kolumbianische Verfassungsgericht bereits im Jahr 2020 die Sondereinheit ESMAD als akute Bedrohung derjenigen bezeichnet, die auf friedliche Art und Weise ihrem verfassungsmäßigen Recht auf Protest nachkommen wollen.

Zivile Protestierende als „Innerer Feind“?

Polizei und ESMAD sind Teil der Sicherheitskräfte, Ausrüstung und Vorgehensweisen ähneln eher dem Bild einer Auseinandersetzung mit einem inneren Feind. Der Hinweis der Regierung auf die Formulierung „Ziviler Natur“ ist in der Praxis, wie diverse Einsätze während der letzten Monate zeigen, eine theoretische Umschreibung andersgelagerter Praktiken. Auch ehemalige Militärs in Diensten von unzähligen Sicherheitsdiensten unterstehen der Hoheit des Verteidigungsministeriums. Insgesamt 250 Sicherheitsunternehmen gibt es in Kolumbien. Ausländische „Sicherheitsfirmen“ wie beispielsweise aus den USA, greifen gerne auf ausgebildete, ehemalige kolumbianische Soldaten zurück. Ehemalige kolumbianische Soldaten sind in vielen Ländern Teil der örtlichen Sicherheitskräfte. An der Ermordung des haitianischen Staatspräsidenten waren nach übereinstimmenden Informationen vor allem ehemalige kolumbianische Armeeangehörige beteiligt.

Wie es um die Einstellung zu Protesten bestellt ist, machte eine Veröffentlichung von Mitgliedern der aktiven Militärreserve am 02.07.2021 deutlich: In den, „zu Unrecht als soziale Proteste“ bezeichneten Aktionen sehen sie eine Bedrohung für den Rechtsstaat und die Demokratie. Man versuche, „den terroristischen Vandalismus zu legitimieren“. Mit Hilfe von „nützlichen Idioten“ würden marginalisierte Jugendliche als Speerspitze benutzt, „um die Sicherheitskräfte zu diskreditieren“. Kolumbien befände sich „im Angesicht einer Bedrohung seiner Staatlichen Integrität“. Hier „feiert“ die Doktrin der Nationalen Sicherheit fröhliche Urstände.

Die Sondereinheit ESMAD

Das Kolumbianische Menschenrechtsnetzwerk, die Koordination Kolumbien-USA-Europa, hatte 2021 einen Bericht speziell über die ESMAD erstellt, der im Folgenden in einer Zusammenfassung wiedergegeben werden soll.

„Die kolumbianische Regierung bestreitet kategorisch jede systematische Verletzung der Menschenrechte während des Generalstreiks 2021. Dass die Zahlen zur Polizeigewalt alarmierend sind, ist für die Regierung kein ausreichendes Argument. Präsident Duque interpretiert die Proteste als Aktionen von Wahlkampfbrandstifter*innen, die nicht in der sozialen Realität verankert sind. Aber es werden Dutzende von Tötungsdelikten registriert, Hunderte von Verletzten, Menschen mit Augenverletzungen, mehr als hundert Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt, es gibt attackierte Journalist*innen und tausende Personen, die willkürlich verhaftet wurden. Dies ist, gelinde gesagt, besorgniserregend. Die ESMAD wurde 1999 als Polizeieinheit geschaffen, um die sozialen Mobilisierungen zu bekämpfen. Ihre Gründung war ein entscheidender Schritt zur Militarisierung der Nationalpolizei. Ihr Charakter als Stoßtrupp gegen Menschenmengen ist mit der Ausübung von Rechten nicht vereinbar. In der Tat hat ihre De facto-Position als Sicherheitseinrichtung des Staates sie dahin geführt, eine Demonstration als Aktivität des „Feindes“ wahrzunehmen. Seit sie geschaffen wurde, haben die verschiedenen Regierungen es der ESMAD erlaubt, ihre Tätigkeit selbst zu regeln. Dies erklärt, warum ihre Vorschriften kaum mit Menschenrechtsstandards vereinbar sind. Ein deutliches Beispiel dafür ist der Einsatz von Waffen mit vermeintlich „reduzierter Letalität“. Trotz der Tatsache, dass mit diesen Waffen Menschen zu Tode kamen wurde die die Entscheidung über die Verwendungen dieser Waffen nicht neu bewertet.

Strukturelle Merkmale

Das historische Handeln der ESMAD lässt sich durch folgende Elemente charakterisieren:

1. Übermäßiger Gewalteinsatz, selbst gegen friedliche Demonstrationen.

2. Befehlsempfang einzig von der Polizeihierarchie und dem Verteidigungsministerium, Missachtung der lokalen Behörden.

3. Unverhältnismäßiger und exzessiver Gebrauch von Waffen, denen fälschlicherweise eine „reduzierte Letalität“ bescheinigt wird.

4. Unterschiedslos gewaltsames Vorgehen sowohl gegen friedliche Proteste als auch kriminelle Aktionen innerhalb der Demonstrationen.

5. Verwendung von illegaler Munition und Geschossen, die die Verletzungsgefahr und die tödliche Wirkung erhöhen.

6. Einsatz nicht-konventioneller Ausrüstung wie zum Beispiel Stichwaffen, sowie Verwendung von erlaubten Waffen ohne die Einhaltung von Protokollen.

7. Gewalttätiges Vorgehen gegen Personen, die polizeiliche Handlungen und Vorgehensweisen dokumentieren.

8. Fehlende Kontrollen und heftige Zurückweisung der Forderungen von Regierungsstellen und Bürger*innen nach einer Rechenschaftspflicht.

9. Gewalttätige Polizeiübergriffe, die mit der Vertuschung und der Zustimmung durch die Behörden einhergehen.

 Diese neun Merkmale sind strukturell und wiederholt präsent. Sie widersprechen dem Gesetz und der Verfassung und machen aus der ESMAD eine Einrichtung, die gegen den sozialen Rechtsstaat gerichtet ist. In einer Demokratie darf es kein Corps bewaffneter Akteure geben, die die freie Meinungsäußerung und das Recht auf friedlichen Protest verhindern. Das Verfassungsgericht selbst hat das Vorgehen der ESMAD als eine „landesweite Problematik der systematischen, gewalttätigen, willkürlichen und unverhältnismäßigen Intervention der staatlichen Gewalt bei Meinungskundgebungen der Bürger*innen“ eingeordnet.** Die Zahlen über mutmaßlich von der ESMAD begangene Tötungen sind alarmierend. Sie haben während der Regierung Duque zugenommen. Zwischen 1991 und 2019 gab es mindestens 59 Todesopfer. Dagegen wurden während der letzten zwei Jahre 121 Tötungsdelikte gemeldet: 37 vor dem Streik und 84 nach dem 28. April 2021.

Straflosigkeit

Das Agieren der ESMAD wird durch andere Gesellschaftssektoren unterstützt. Neben der Polizei (Bereitschafts- und Überwachungskräfte) sind die Armee und sogar bewaffnete Zivilisten Teil des gewaltsamen Vorgehens gegen die soziale Mobilisierung. Aber es muss betont werden, dass die ESMAD diejenige Einrichtung ist, die die größte Brutalität mit den meisten tödlichen Folgen ausübt. Gleichzeitig ist die Straffreiheit für ihre Handlungen ein Faktor. Die Straffreiheit verhindert, dass diese kriminellen Praktiken eingedämmt werden. Die niedrige Rate an Verurteilungen und die Duldung durch den Staat ermöglichen es, dass polizeiliche Übergriffe ungestraft bleiben. Die Militärstrafjustiz, die auch die Gerichtsbarkeit für die Polizei innehat, spricht keine Urteile aus, die die Wiederholung von verschiedensten Angriffen auf die Menschenrechte verhindern.

 Die Beweismittel zeigen, dass die ESMAD gegen verfassungsmäßige und gesetzliche Bestimmungen verstößt. Angesichts der strukturellen Verletzung der Menschenrechte und der Unfähigkeit der ESMAD, die vom sozialen Rechtsstaat vorgegebenen Rahmenbedingungen zu respektieren, ist die Abschaffung dieser Einrichtung eine Notwendigkeit. Es ist unwiderlegbar: „Die Vorgaben der Verfassung hinsichtlich einer zivilen Polizei, die Garant für die Achtung der Rechte, der Freiheiten und des demokratischen Zusammenlebens ist und den Bürgermeister*innen als erster Polizeiautorität untersteht, sind in Kolumbien schlichtweg keine Realität.“ ***

*Koordination Kolumbien, Europa und USA (2021). El Escuadrón Antidisturbios ESMAD y su vocación innata a la violación de los Derechos Humanos y la supresión del Derecho a la Protesta Social.

**Verfassungsgericht (22. Juni 2021). Zivile Kammer des Verfassungsgerichtes ordnet Maßnahmen an, um das Recht auf friedlichen Protest zu garantieren. In: cortesuprema.gov.co/gobierno/index/php/2020/09/22/corte-suprema-ordena-medidas-para-garantizar-derecho-a-protesta-pacifica/. Zitiert aus dem Originaltext. ***Koordination Kolumbien, Europa und USA (2021). El Escuadrón Antidisturbios ESMAD y su vocación innata a la violación de los Derechos Humanos y la supresión del Derecho a la Protesta Social, S.5

Zusammenfassung des Dokuments über die ESMAD: Tomás Perea Tobón

Übersetzung: Gerold Schmidt

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