Wolfgang Seiss (W.S.): Am 22. April, dem internationalen Tag der Mutter Erde, tritt das Abkommen von Escazú in Kraft. Das Abkommen von Escazú ist das erste weltweite verbindliche Abkommen, das den Zugang zu Informationen und Justiz, Mitbestimmungsrechte und den Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen in Umweltfragen umfasst. Das Programm Somos Defensores in Kolumbien hat bereits in der Vergangenheit in vielen Fällen Menschenrechtsverteidiger*innen unterstützt, die aufgrund ihres Einsatzes für die Umwelt, ihre Territorien und natürliche Ressourcen bedroht wurden und Schutz suchten. Aus Sicht des Programms Somos Defensores: Was bedeutet das Abkommen von Escazú in Kolumbien?
Leonardo Díaz (L.D.): Die Arbeit des Programms richtet sich ja an Menschenrechtsverteidiger*innen im Sinne der entsprechenden UN-Erklärung. Dazu zählen natürlich auch Menschenrechtsverteidiger*innen in Umwelt- und Naturressourcenangelegenheiten, die wir auch oft durch direkte Schutzmassnahmen unterstützt haben. Menschenrechtsverteidiger*innen in diesem Kontext werden oftmals aufgrund von Anzeigen, die sie anlässlich von Umweltverbrechen stellen, bedroht, oder weil sie Territorien und Land verteidigen. Oftmals müssen sie ihre Region verlassen, um sich und ihre Familien zu schützen. Bereits 2017 hatten wir mit der Weltnaturschutzunion (IUCN) ein Abkommen über 18 Monate geschlossen, um Menschenrechtsverteidiger*innen in Umweltfragen und der Landrechtsproblematik zu begleiten und zu ihrem Schutz beizutragen. Der Vorschlag dazu kam von der Umweltorganisation CENSAT Agua Viva in Kolumbien, mit der wir zur Unterstützung von Menschenrechtsverteidiger*innen zusammenarbeiten. Leider lief hinterher die Finanzierung aus, wir sind aber weiterhin in Kontakt mit der IUCN. Egal ob es nun eine spezifische finanzielle Unterstützung für diese Fälle gibt oder nicht, wir arbeiten mit Menschenrechtsverteidiger*innen in Umweltfragen sowohl bei unseren Fortbildungsprogrammen als auch beim direkten Schutz zusammen.
W.S.: Und was bedeutet das bezogen auf Escazú?
L.D.: Ich will den Artikel 1 des Abkommens zitieren. Er zielt darauf ab “…in Lateinamerika und der Karibik vollumfänglich und effektiv die Rechte auf Zugang zu Umweltinformationen, Bürgerbeteiligung an den Entscheidungsprozessen und Zugang zur Justiz in Umweltfragen zu garantieren, ebenso wie die Schaffung und Stärkung von Kapazitäten und Zusammenarbeit, um einen Beitrag zum Schutz des Rechtes jeder Person, der heutigen und zukünftigen Generationen zu leisten, in einer gesunden Umwelt zu leben und an einer nachhaltigen Entwicklung teilzuhaben“. Kolumbien gehörte 2018 ja zu den Unterzeichnerstaaten des Abkommens von Escazú. Dieser gerade zitierte Artikel, der erweiterte Rechtsrahmen, den das Abkommen schafft, ermutigte Umweltorganisationen wie CENSAT, COSAJUCA, die kolumbianische Allianz gegen das Fracking, Tierra Digna und andere in ihrer Arbeit. Auf der Grundlage von Escazú baten sie die Regierung, den Zugang zu Informationen über extraktivistische und Bergbauvorhaben sicherzustellen, im Verständnis, dass es öffentlich zugängliche Informationen sind. Zudem baten sie darum, an den Entscheidungen beteiligt zu werden, bevor diese Vorhaben Auswirkungen auf die Umwelt der Gemeinden haben. Auch forderten sie den notwendigen Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen und Organisationen im Umweltbereich ein, der im Abkommen ebenfalls enthalten ist. In diesen drei Bereichen gab es bereits vor Escazú Maßnahmen und Regelungen, die aber nicht hinreichend sind: Zum Beispiel beim Thema Informationszugang, auf der Grundlage von rechtlichen Eingaben oder Klagen oder einstweiligen Verfügungen, um Informationen zu erhalten. Allerdings wird dann nicht immer Zugang zu den wirklich relevanten Informationen gewährt. Beim Thema Schutz gibt es auf staatlicher Seite die „Nationale Schutzeinheit“ (UNP -Unidad Nacional de Protección): Diese nimmt allerdings die Menschenrechtsverteidiger*innen in Umweltfragen nicht als gesonderte Kategorie wahr. Sie fasst sie mit anderen Kategorien wie „soziale Führungspersönlichkeiten“, „Gemeindemitglieder“, „Menschenrechtsverteidiger*innen generell“ zusammen. Dies beeinträchtigt natürlich die notwendige Risikoanalyse, warum sie bedroht werden. Damit verwischt sich auch, dass die Hintergründe in der Auseinandersetzung um natürliche Ressourcen und mögliche Umweltschäden liegen könnten. Zugleich wird damit auch ein auf dem Extraktivismus beruhendes Wirtschaftsmodell, sagen wir mal, in Schutz genommen. In Sachen Wirtschaftspolitik und natürliche Ressourcen fährt die Regierung von Präsident Duque einen doppelten Diskurs: Im Wahlkampf versprach Duque, Fracking nicht zuzulassen und heutzutage haben wir mehrere Pilotprojekte für Fracking. Befürwortet durch eine Expertenkommission, die die Regierung zusammengestellt hat. Diese hat die Frackingmethode unter Einsatz von großen Wassermengen empfohlen. In den Steuerreformen flexibilisierte (senkte) die Regierung die Steuerlast für nationale und internationale Unternehmen, die in diesen und anderen Bereichen des Extraktivismus tätig sind.
Bedrohungen und Fracking
Was das für diejenigen bedeutet, die sich beispielsweise gegen das Fracking engagieren, zeigt ein Fall, den wir begleitet haben. Natalia, eine junge Mitarbeiterin des Komitees zur Verteidigung von Wasser, Leben und des Territoriums von Puerto Wilches (AGUAWIL) und der kolumbianischen Allianz gegen das Fracking unterstützen wir im Schutzprogramm. Wir mussten ihr helfen, die Region sicher verlassen zu können. Im Februar 2021 machten diverse Organisationen, darunter die von Brot für die Welt unterstützte Organisation CAJAR, dies öffentlich und beschrieben den Fall wie folgt: „In Puerto Wilches ist das erste Pilotprojekt zum Fracking von Ecopetrol und der Nationalen Behörde für fossile Brennstoffe geplant, die entsprechenden Verträge wurden im Dezember 2020 unterzeichnet. Es wird vermutet, dass noch mindestens ein weiteres Vorhaben im selben Landkreis durch Exxon Mobil in Planung ist. AGUAWIL führte im Dezember 2020 Veranstaltungen gegen das Fracking durch, darunter ein Forum mit 1.000 Teilnehmenden unter Anwesenheit des Bürgermeisters und diverser Radiostationen. Am 29. Januar 2021 nahm Natalia auf Einladung der fünften Kommission des Repräsentantenhauses als Sprecherin von AGUAWIL und der kolumbianischen Antifracking-Alllianz an einer öffentlichen Anhörung im kolumbianischen Kongress teil. Dies war Teil einer Debatte über Gesetzesinitiativen mit dem Ziel, Fracking endgültig zu verbieten, und die von über 40 Abgeordneten unterschiedlicher Parteien getragen wurde. Die Anhörung erreichte breite Aufmerksamkeit auch durch die Einlassungen von David Boyd, Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen in Umweltfragen, der den Kongress ersuchte, ein Gesetz zum Verbot von Fracking zu erlassen. Auch die Teilnahme des Vorsitzenden des Komitees für Wirtschaftliche, Soziale und Kulturelle Rechte der Vereinten Nationen, Renato Zerbini, und der britischen Abgeordneten Sheehan sorgten für zusätzliches Interesse. Noch am selben Tag der Anhörung erhielt Natalia die ersten Drohungen: Abends hielt ein Motorrad vor ihrem Haus, der Beifahrer stieg ab, betrat mit Helm das Haus und drohte: „Sie sind sehr hübsch, wäre doch schade, wenn Ihnen was passieren würde.... die Dinge werden hier hitzig werden, passen Sie gut auf sich auf.“ Am Folgetag stellte Natalia nach der Rückkehr von dem Büro der Staatsanwaltschaft fest, dass das Eingangstor zur Rückseite ihres Hauses aufgebrochen war. Gleichzeitig erhielten auch andere Mitglieder von AGUAWIL, die in der Region unterwegs waren, in der das Frackingprojekt beginnen soll, Drohungen. Diese Drohungen und Einschüchterungen richten sich gegen lokale Gemeindeführer*innen, die sich gegen das Frackingprojekt wehren. Ein Vorhaben, an dem ökonomische Interessen von Unternehmen, Politiker*innen und Paramilitärs, die in der Gegend operieren, bestehen.“ Diverse Organisationen machten angesichts weiterer Fälle in den Provinzen Cesar und Santander, in denen sich Drohungen gegen MRV in Umwelt und Naturressourcenfragen häuften, auf das zugrunde liegende Muster aufmerksam. In allen Fällen handelte es sich um Personen, die sich gegen Ölförderungsvorhaben in der Region Magdalena Medio aussprachen.
W.S.: Kolumbien unterzeichnete das Escazú-Abkommen im Dezember 2019, hat es aber bis heute nicht ratifiziert. Warum?
L.D.: Als es im November 2019 zu Protesten gegen die neoliberalen Massnahmenpakete der Regierung kam, versprach Duque Escazú zu ratifizieren. Dies blieb bislang aus. Und wie bereits beschrieben würde die Ratifizierung des Abkommens bedeuten, sich mit den Inhalten und der Umsetzung zu befassen. Das läuft aber den Interessen von einflussreichen Wirtschaftssektoren zuwider. Soziale Organisationen und Menschenrechtsorganisationen haben unzählige Vorschläge erarbeitet, die darauf abzielen, das Steuer- und Abgabensystem grundlegend zu reformieren. Damit die Ausnahmeregelungen für die Entrichtung von Steuern in einer Größenordnung von derzeit 9,2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes verringert werden. Bisher vergeblich. In Kolumbien ist es nicht nötig, neue Institutionen und staatliche Instanzen zu schaffen. Bereits mit den bestehenden könnten wir viel erreichen: Beispielsweise stehen in den Friedensabkommen von Havanna unzählige Maßnahmen, die die Regierung nicht anwendet: Mechanismen zum kollektivem Schutz bei der Verteidigung von Territorien, die Sonderermittlungseinheit der Staatsanwaltschaft, die nationale Garantiekommission zur Abschaffung der Paramilitärs. Letztere finanzieren sich ebenfalls aus Gewinnen der Ausbeutung von Mineralien und fossilen Brennstoffvorkommen.
Die Ratifizierung von Escazú könnte aber bedeuten, bisherige einzelne Elemente staatlichen Handelns im Umwelt und Ressourcenbereich zu bündeln, eine öffentliche Diskussion über Informationszugang und Bürger*innenbeteiligung anzuregen sowie den Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen im Umweltbereich zu verbessern. Im politischen Sinne ist Escazú ein wichtiger Referenzrahmen für unseren Kontinent und auch für die westliche Staatengemeinschaft. Denn sie stellt sowohl die Technik als auch die Finanzen für die Ausbeutung der Rohstoffe, der natürlichen Gemeingüter, bereit. Aber es besteht derzeit wenig Hoffnung auf den Beitritt Kolumbiens zu Escazú. Denn die Regierung ist darauf spezialisiert, Abkommen nicht einzuhalten oder zu ratifizieren, sei es Escazú oder die über 1.500 Vereinbarungen des Friedensabkommens von Havanna.