Passend zum internationalen Tag der Mutter Erde (Resolution der UN Generalversammlung 2009) tritt am kommenden Donnerstag, den 22. April, das Regionalabkommen über den Zugang zur Information, Politischen Beteiligung und den Justizzugang in Umweltangelegenheiten in Lateinamerika und der Karibik * in Kraft. Befürworter*innen bewerten das sogenannte Escazú-Abkommen als bahnbrechende Vereinbarung. Die Generalsekretärin der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL), Alicia Bárcena, nennt das Abkommen im Vorwort zum Vertragstext „visionär und beispiellos“. Den Weg hin zum Abkommen beschreibt sie als „innovativ“, das Ergebnis „inspirierend“. Denn das Abkommen ist weltweit das erste, das spezifische und rechtsverbindliche Ausführungen über Menschenrechtsverteidiger*innen in Umweltfragen enthält. Es verbindet Informations- und Mitbestimmungsrechte sowie den Zugang zur Justiz in Umweltangelegenheiten mit dem Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen. Dem Escazú-Abkommen steht eine Realität in der lateinamerikanischen und karibischen Region gegenüber, die vielfach in krassem Widerspruch zu den fortschrittlichen Postulaten der Vereinbarung steht.
Brot für die Welt und Escazú
Der kirchliche Entwicklungsdienst und Brot für die Welt haben sich der Umweltthematik und den Umweltrechten der Bevölkerung spätestens seit der Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) 1983 in Vancouver verpflichtet gefühlt. Damals rief der Rat zu einem konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung auf. Daher nimmt Brot für die Welt das Inkrafttreten des Abkommens als willkommenen Anlass, über die Bedeutung und Hintergründe von „Escazú“ zu reflektieren. Dabei wollen wir diejenigen in den Mittelpunkt stellen, die die „Mutter Erde“ oft unter Einsatz des eigenen Lebens verteidigen. Die sich für eine intakte Umwelt, den Erhalt von Wäldern und für sauberes Wasser einsetzen: Es sind Menschenrechtsverteidiger*innen und Umweltschützer*innen, die sich für die Wahrung der wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und Umweltrechte stark machen. Es sind Indigene und afroamerikanische, bäuerliche Bevölkerungsgruppen, deren territoriale Rechte oft missachtet werden.
Zugleich wollen wir die Herausforderungen verdeutlichen, vor denen Partner von Brot für die Welt in Lateinamerika und der Karibik stehen, die sich mit Fragen des Klimawandels und des Raubbaus an der Natur seit Jahren befassen. Dies wird in einer Reihe von Interviews mit Partnerorganisationen sowie Artikeln aus mehreren Ländern Lateinamerikas (die das Abkommen unterschrieben und nicht ratifiziert haben und solchen, die dem Abkommen nun offiziell beigetreten sind) geschehen, die in den kommenden Tagen auf dieser Website veröffentlicht werden. Dabei war die enge Zusammenarbeit mit Gerold Schmidt, freier Journalist und Übersetzer zentral. Seit 30 Jahren berichtet er zur politischen und wirtschaftlichen Situation in Mexiko und Mittelamerika. Spezialisiert auf die Themen: Menschenrechte, Klimakrise, Umweltbewegungen, Biodiversität, kleinbäuerliche und indigene Landwirtschaft.
Dieser Einführungstext beschäftigt sich vor allem mit dem formalen Prozess, der zu Escazú führte und zeichnet die Vorgeschichte ab dem „Erdgipfel Rio 1992“ nach. Im zweiten Teil am 22. April selbst werden wir in einer ausführlichen Einordnung des Abkommens auf das Spannungsverhältnis seiner Inhalte und der lateinamerikanischen Wirklichkeit eingehen.
Von Río bis nach Escazú – eine lange Geschichte
Wenn das Escazú-Abkommen mit einem offiziellen Akt am Sitz der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) in Santiago de Chile am 22. April 2021 rechtsverbindlich wird, hat es eine lange Geschichte hinter sich. Waren in den 1970er Jahren die Umweltgedanken auf internationaler Ebene noch wenig verbreitet, trat mit der „Konferenz der Vereinten Nationen über die Umwelt des Menschen“ im Juni 1972 in Stockholm ein langsamer Wandel ein. Diese erste UNO-Umweltkonferenz war der Auftakt diverser umweltpolitisch relevanter Konferenzen auf internationaler Ebene. Einen Meilenstein stellte die Tagung der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 in Rio de Janeiro dar. Sie sollte als „Erdgipfel“ von Rio oder „Rio 1992“ zu einem festen Begriff werden. 178 Regierungen beschlossen damals die Rio-Erklärung über Umwelt und Entwicklung mit 27 Grundsätzen. Die Einleitung der Rio-Erklärung liest sich aus heutiger Sicht als eine sehr optimistische und hoffnungsvolle Zielsetzung. Die Unterzeichnerstaaten sprechen sich dafür aus, „(…) durch die Schaffung von neuen Ebenen der Zusammenarbeit zwischen den Staaten, wichtigen Teilen der Gesellschaft und den Menschen eine neue und gerechte weltweite Partnerschaft aufzubauen, bemüht um internationale Übereinkünfte, die die Interessen aller achten und die Unversehrtheit des globalen Umwelt- und Entwicklungssystems schützen, anerkennend, dass die Erde, unsere Heimat, ein Ganzes darstellt, dessen Teile miteinander in Wechselbeziehung stehen (…).“ Für Bürger*innen und Umwelt ist der Grundsatz 10 der Rio-Erklärung besonders wichtig und im Rückblick der Ausgangspunkt des Escazú-Abkommens gewesen. Wörtlich heißt es dort: „Umweltfragen sind am besten auf entsprechender Ebene unter Beteiligung aller betroffenen Bürger zu behandeln. Auf nationaler Ebene erhält jeder Einzelne angemessenen Zugang zu den im Besitz öffentlicher Stellen befindlichen Informationen über die Umwelt, einschließlich Informationen über Gefahrstoffe und gefährliche Tätigkeiten in ihren Gemeinden, sowie die Gelegenheit zur Teilhabe an Entscheidungsprozessen. Die Staaten erleichtern und fördern die öffentliche Bewusstseinsbildung und die Beteiligung der Öffentlichkeit, indem sie Informationen in großem Umfang verfügbar machen. Wirksamer Zugang zu Gerichts- und Verwaltungsverfahren, so auch zu Abhilfe und Wiedergutmachung, wird gewährt.“
Auswirkungen von Rio auf Europa
Auf den Grundsatz 10 der Rio-Erklärung bezieht sich auch die europäische Aarhus-Konvention: Im Juni 1998 beschlossen in der dänischen Stadt Aarhus 37 Staaten das „Übereinkommen über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten“. Ausgehandelt wurde die Konvention im Rahmen der UN-Wirtschaftskommission für Europa. Inzwischen hat die Aarhus-Konvention 47 Vertragsparteien, unter ihnen die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten. Die Aarhus-Konvention fußt auf drei Säulen: Sie spricht der Öffentlichkeit beim Zugang zu Umweltinformationen, bei der Beteiligung an umweltrelevanten Entscheidungsprozessen und bei der Überprüfung staatlichen Handelns durch Gerichte besondere Rechte zu. Der Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen in Umweltfragen ist in der Aarhus-Konvention nicht enthalten.
Weitere Anstösse durch Rio
Rio 1992 hatte weitere wichtige Auswirkungen. Auf der Konferenz wurde die Agenda 21 zur nachhaltigen Entwicklung verabschiedet. Ebenso wurde in Rio die Konvention zur Biologischen Vielfalt zur Unterzeichnung präsentiert und trat nach der Ratifizierung durch 168 Staaten 1993 in Kraft. Ein Jahr später fand die erste Konferenz der Vertragsstaaten (COP- Conference of the Parties) und zivilgesellschaftlicher Vertreter*innen statt. Rio 1992 war zudem Ausgangspunkt der Klimarahmenkonvention, in deren Kontext seit 1995 die UN-Weltklimakonferenzen (United Nations Climate Change Conferences, Conference of Parties, COP) stattfinden. Die Konferenzen betonten - zumindest auf dem Papier - wiederholt die Bedeutung lokaler Gemeinden und indigener Völker bei der Bewahrung der biologischen Vielfalt, der „Mutter Erde“, der Wälder und Gewässer. Im Juni 2012 fand dann erneut in Rio de Janeiro die UN-Konferenz zu Nachhaltiger Entwicklung (Rio + 20) statt. Hauptthemen war die grüne Ökonomie im Kontext nachhaltiger Entwicklung, die Bekämpfung beziehungsweise Abschaffung von Armut sowie ein institutioneller Rahmen für Nachhaltigkeit. Die Konferenz gab den Anstoß zur Entwicklung der Sustainable Development Goals (SDG). Darüber hinaus wurden in dem Dokument „Die Zukunft, die wir wollen“ die Grundsätze von Rio 1992 zu Umwelt und nachhaltiger Entwicklung bekräftigt und erneut die Bedeutung des ganzheitlichen Ansatzes von „Mutter Erde“ herausgestellt. Explizit wird auf die Bedeutung der UN-Erklärung über die Rechte der Indigenen Völker hingewiesen.
Das Regionalabkommen nimmt Form an
Vor diesem Hintergrund war Rio + 20 der offizielle Startschuss für die Verhandlungen über ein lateinamerikanisches Regionalabkommen. Die Regierungen aus zehn Ländern (Chile, Costa Rica, Ecuador, Jamaica, Mexiko, Panama, Paraguay, Peru, Dominikanische Republik und Uruguay) unterzeichneten ein gemeinsames Memorandum zur Anwendung des Grundsatz 10 der Rio Erklärung in Lateinamerika. Zwei Arbeitsgruppen befassten sich mit der Stärkung von Kooperation und Zusammenarbeit (Gruppe I geleitet von Kolumbien und Jamaica) und den Zugangsrechten zur Information und einem regionalen Instrument (Gruppe II geleitet von Brasilien und Costa Rica). Zwei Jahre und 14 Sitzungen später verabschiedeten die Unterzeichnerstaaten den „Beschluss von Santiago (de Chile)“. Damit nahmen sie formal die Verhandlungen für ein regionales Abkommen mit Unterstützung der CEPAL als technischem Sekretariat auf. Dem Verhandlungsgremium gehörten inzwischen Vertreter*innen von 24 Staaten der Region an **. Die CEPAL verfasste ein Arbeitspapier als Vertragsgrundlage, in das nach und nach die Beiträge der zukünftigen Mitgliedsstaaten des Regionalabkommens eingebaut wurden. Nach neun Verhandlungsrunden und sechs virtuellen Sitzungen stand der Text. Am 4. März 2018 wurde das „Regionale Abkommen über den Zugang zu Information, Öffentliche Beteiligung und Zugang zur Justiz in Umweltangelegenheiten in Lateinamerika und der Karibik“ in Escazú, einem Stadtteil von Costa Ricas Hauptstadt San José von den Delegierten aus 24 der potentiell 33 lateinamerikanischen und karibischen Staaten unterzeichnet. Die Ratifizierung durch Parlamente und Regierungen, für die eine dreijährige Frist vorgesehen war, gestaltete sich jedoch schleppender und schwieriger als erwartet. Voraussetzung für das rechtsverbindliche Inkrafttreten des Abkommen war die Ratifizierung durch mindestens elf der 24 ursprünglichen Unterzeichnerstaaten. Diese Zahl wurde erst im November 2020 durch die Ratifizierung Mexikos (als elfter Staat) erreicht und durch die Ratifizierung Argentiniens im Januar 2021 übertroffen. Costa Rica und Chile, die das Abkommen ursprünglich wesentlich vorantrieben, machten bei der Ratifizierung ebenso einen Rückzieher wie Paraguay oder Honduras.
Was steht im Abkommen?
Ein Blick in das Abkommen macht deutlich, auf was genau sich die Unterzeichnerstaaten in rechtsverbindlicher Form einlassen: Das Escazú-Abkommen spricht nicht nur allen Personen das Recht zu, in einer sauberen Umwelt zu leben. Die in ihm aufgeführten Rechte sollen frei ausgeübt werden können. Es sind insbesondere die Artikel fünf bis neun des Abkommens, die die Verpflichtungen der Vertragsstaaten deutlich benennen. So zielen die Artikel 5 und 6 auf das Gebot ab, Umweltinformationen nicht nur zu erstellen, sondern sie zu verbreiten und den öffentlichen Zugang zu ihnen zu garantieren. Dabei definiert „Umweltinformation“, alle Informationen zu Umwelt und natürlichen Ressourcen, inklusive zu Umweltrisiken oder möglicher nachteiliger Wirkungen sowie zu Umweltschutz und Management. Umweltverträglichkeitsstudien müssen von privaten und öffentlichen Unternehmen in lokalen Sprachen zur Verfügung gestellt werden. Artikel 7 behandelt die öffentliche Mitbestimmung für die Bürger*innen von Beginn an bei allen Entscheidungsprozessen, die Auswirkungen auf die Umwelt haben. Artikel 8 stellt das Recht und die Garantie auf den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten heraus, insbesondere dann, wenn Menschen ihre umweltbezogenen Rechte verletzt sehen. Enthalten ist auch die unentgeltliche Rechtsberatung und Unterstützung bei Beweiserbringung und Schadensersatzforderungen sowie die Möglichkeit der Umkehr der Beweislast. Mit Artikel 9 betreten die Staaten Neuland: Erstmals in einem Abkommen dieser Art wird explizit auf den Schutz von „Menschenrechtsverteidiger*innen in Umweltangelegenheiten“ eingegangen. Da dieser Artikel angesichts der prekären und gefährdeten Lage vieler Umweltschützer*innen in der Region besondere Bedeutung hat, soll er hier komplett wiedergegeben werden: „ARTIKEL 9“ Menschenrechtsverteidiger*innen in Umweltangelegenheiten 1. Alle Unterzeichner garantieren ein angemessenes und sicheres Umfeld, in dem die Personen, Gruppen und Organisationen, die die Menschenrechte in Umweltangelegenheiten fördern und verteidigen, ohne Bedrohungen, Einschränkungen und ohne Unsicherheit arbeiten können. 2. Alle Unterzeichner ergreifen geeignete und effektive Maßnahmen, um alle Rechte von Menschenrechtsverteidiger*innen in Umweltangelegenheiten anzuerkennen, zu schützen und zu fördern. Dazu gehört das Recht auf Leben, die persönliche Integrität, die Meinungs- und Ausdrucksfreiheit, auf die friedliche Versammlungs- und Organisationsfreiheit sowie die Bewegungsfreiheit. Dazu gehört ebenso die Möglichkeit, unter Berücksichtigung der internationalen Verpflichtungen des Unterzeichners in Menschenrechtsangelegenheiten, sowie seiner Verfassungsprinzipien und der grundlegenden Elemente seines Rechtssystems, die Zugangsrechte ausüben zu können. 3. Alle Unterzeichner ergreifen angemessene, effektive und opportune Maßnahmen, um Angriffe, Bedrohungen und Einschüchterungen, die Menschenrechtsverteidiger*innen in Umweltangelegenheiten durch die Ausübung ihrer in diesem Abkommen beschriebenen Rechte erfahren können, zu verhindern, zu untersuchen und zu sanktionieren.
Diese Verpflichtungen bergen Sprengkraft, wenn sie an der Realität gemessen werden. Darauf wird der Folgeartikel eingehen.
* Auf Spanisch: Acuerdo Regional sobre el Acceso a la Información, la Participación Pública y el Acceso a la Justicia en Asuntos Ambientales en América Latina y el Caribe.
** Antigua y Barbuda, Argentina, Bolivia (Estado Plurinacional de), Brasil, Chile, Colombia, Costa Rica, Dominica, Ecuador, El Salvador, Granada, Guatemala, Honduras, Jamaica, México, Panamá, Paraguay, Perú, República Dominicana, Saint Kitts y Nevis, Santa Lucía, San Vicente y las Granadinas, Trinidad y Tobago und Uruguay