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Mexiko: Flüsse für das Leben, nicht für den Tod

Die Ortschaft Paso de la Reyna liegt nahe der mexikanischen Pazifikküste im Bundesstaat Oaxaca. Von Ende Januar bis Ende März 2021 wurden innerhalb von neun Wochen fünf Umweltschützer der 500-Einwohner*innengemeinde ermordet. Die Hilfeschreie an die mexikanische Regierung verhallten bisher ungehört.

Von Gastautoren am
Schutz der Menschen und Ressourcen

Fidel Heras Cruz auf dem Rio Verde

Trotz der Macht großer Konzerne und staatlicher Behörden gelingt es indigenen und kleinbäuerlichen Gemeinden in einzelnen Fällen immer wieder, ihre Umwelt und ihren Lebensraum erfolgreich und friedlich gegen Megaprojekte auf ihrem Territorium zu verteidigen. Vielfach geraten die Menschenrechtler*innen in Umweltbelangen dabei jedoch auch ins Visier lokaler Wirtschaftsinteressen. Ohne Schutz werden sie zu Freiwild. Wie in Paso de la Reyna. Zum Ort gehört ein umfangreiches „Ejido“, Gemeinschaftsland, das auf zugeteilten Parzellen bebaut und vom Río Verde durchschnitten wird. Der Fluss ist der drittgrößte im Bundesstaat Oaxaca und hat insbesondere in Regenzeiten einen hohen Wasserstand.

Aufruhr am Río Verde

2006 verdichteten sich jahrelange Gerüchte zu einer offiziellen Bekanntmachung der staatlichen Stromgesellschaft CFE. Das Unternehmen verkündete den Bau des Wasserkraftwerkes Paso de la Reina sowie weitere Bauvorhaben entlang des Flusslaufes in Zusammenarbeit mit der Privatindustrie. Die Umsetzung der Projekte hätte nicht nur die Überflutung enormer Flächen und je nach Standort Unwägbarkeiten für die einheimische Landwirtschaft bedeutet. Die für die Maschinen und Materialtransport notwendige Infrastruktur sowie das für den Bau der Staudämme notwendige auswärtige Personal hätte den Lebensraum und die Lebensgewohnheiten der Landbevölkerung einschneidend verändert. Innerhalb weniger Monate organisierte sich der Widerstand der Anrainergemeinden der Bergregion Sierra Sur und der Küste. Die Bevölkerung von Paso de la Reyna spielte dabei eine tragende Rolle.

Jahrelange breite Mobilisierung

Bereits 2007 gründete sich der Rat der Vereinten Völker für die Verteidigung des Río Verde, der COPUDEVER. Mehr als 40 Dörfer mit indigener, afromexikanischer und mestizischer Bevölkerung wehrten sich gemeinsam gegen das halbe Dutzend Staudammprojekte entlang des Flusses. Sie vernetzten sich mit der landesweiten Mexikanischen Bewegung der Staudammgeschädigten für die Verteidigung der Flüsse (MAPDER) sowie Initiativen auf mesoamerikanischer Ebene. Der COPUDEVER organisierte sowohl Workshops mit den Gemeinden als auch Demonstrationen. Bei Straßenblockaden wurden die Autofahrer*innen mit Flugblättern informiert. Der Rat veranstaltete Festivals zur Problematik des Río Verde, führte Pressekonferenzen durch und suchte den Kontakt mit nationalen und internationalen Menschenrechtsinstanzen. Viele Versammlungen in den Dörfern und audiovisuelles Material über den Río Verde und die umgebenden Territorien, in denen die Bevölkerung zu Wort kam, stärkten den Zusammenhalt der Gemeinden. Zu den zahlreichen Organisationen, die COPUDEVER und die Gemeinde Paso de la Reyna begleiten, gehören auch Partner von Brot für die Welt.

Jahrelang wechselten sich die COPUDEVER-Gemeinden Woche für Woche in einem Camp an der Zufahrt zum Ejido Paso de la Reyna und damit zum Fluss ab. Es war das sichtbare Zeichen dafür, dass sie die Kontrolle über ihr Territorium ausüben wollten und dies auch umsetzten. Der Fall Paso de la Reyna wurde überregional bekannt. Die Proteste hatten vorläufig Erfolg. Bislang blieben die Vorhaben am Río Verde im Planungsstand, ohne allerdings offiziell annulliert zu werden. Neue Sorge entstand unter den Bewohner*innen der anliegenden Dörfer, als im März 2020 ein Hubschrauber der CFE den Fluss überflog. Häufiger wird zudem über Versuche des mexikanischen Unternehmens ENERSI berichtet, die Genehmigung für kleinere Wasserkraftwerke am Río Verde zu bekommen.

Lokaler Konflikt

Die überregionale Aufmerksamkeit für Paso de la Reyna hat in gewisser Weise die unterschwelligen Konflikte auf lokaler Ebene verdeckt. In weiten Teilen Mexikos haben die lokalen Machteliten nach wie vor mehr Einfluss als die Bundesgewalt. Aufsässige Gemeinden wie Paso de la Reyna sind solchen örtlichen Machtgruppen ein Dorn im Auge. Selbst wenn sich Proteste nicht direkt gegen sie richten, so bedeuten organisierte Gemeinden eine potentielle Herausforderung ihrer ökonomischen und oft auch politischen Stellung. Paso de la Reyna gehört zum Landkreis Santiago Jamiltepec. Dort stellt eine auch wirtschaftlich in der Region dominante Unternehmerfamilie derzeit zum wiederholten Mal den Bürgermeister beziehungsweise die Bürgermeisterin. „Als ob es sich um Feudalherrschaft handeln würde“, so ein Mitarbeiter einer BfdW-Partnerorganisation, der nicht genannt werden möchte. Die Ejido-Mitglieder von Paso de la Reyna berichten über einen aktuellen Konflikt mit der Familie. Sie werfen ihr vor, sich bei der Ausbeutung der Sand- und Kiesbestände des Río Verde auf dem Ejido-Areal nicht an Abmachungen gehalten zu haben. Den Ejido-Bewohner*innen nach wurde mehr Material als vereinbart abtransportiert und zudem nicht vollständig bezahlt. Mehrfach kam es 2020 zu Spannungen zwischen dem Ejido und der Familie. Obwohl es sich um ein Privatgeschäft handelte, wurde der Abtransport teilweise von kommunalen Fahrzeugen und der Landkreispolizei begleitet.

Todesdrohung und Morde

Unter dem ab 2020 amtierenden neuen Ejido-Vorsitzenden Fidel Heras Cruz, der bereits über zehn Jahre im COPUDEVER aktiv war, versuchte die Gemeinde, die Familie zur Einhaltung der vereinbarten Bedingungen zu bewegen und ausstehende Zahlungen einzufordern. Auf einer Ejido-Versammlung im Januar 2021 wurde der Streit um den Sand- und Kiesabbau offen angesprochen. Kurz darauf fand Fidel Heras im Gebäude des Ejido-Kommissariats auf einem Zettel eine gegen ihn gerichtete Todesdrohung. Zwei Tage später, am 23. Januar, wurde er mit einem Kopfschuss unweit des Ejido-Eingangs ermordet in seinem Wagen aufgefunden. Es sollte nicht der einzige Mord bleiben. In der Nacht vom 14. auf den 15. März wurden auch der stellvertretende Gemeindevorsteher Raymundo Robles Riaño sowie seine beiden Begleiter Noé Robles Cruz und Gerardo Mendoza Reyes erschossen. Anders als Fidel Heras standen sie nicht im Licht der Öffentlichkeit. Doch auch sie setzten sich für den Schutz des Río Verde und die Bewahrung ihres Territoriums ein. Nur zwei Wochen später, am 28. März, brachten die bisher unbekannten Täter mit Jaime Jiménez Ruiz einen ehemaligen Ortsvorsteher von Paso de la Reyna um. Jiménez Ruiz gehörte wie Fidel Heras dem COPUDEVER an.

Keine Ermittlungserfolge

Die Ermittlungen haben bis heute keine entscheidenden Hinweise auf die ausführenden und geistigen Mörder ergeben. Viele Ejido-Mitglieder bringen die Morde in direkten Zusammenhang mit dem Konflikt um den Sand- und Kiesabbau. Andererseits gehörten alle fünf Opfer zu den Umweltschützer*innen, die sich bereits vor den aktuellen Auseinandersetzungen für die Bewahrung des Río Verde eingesetzt hatten. Es scheint, als ob die Bewohner*innen von Paso de la Reyna ein für alle Mal eingeschüchtert werden sollen. Regionale, nationale und internationale Organisationen, darunter die von 15 Mitgliedern einschließlich Brot für die Welt getragene Deutsche Menschenrechtskoordination Mexiko, haben die Regierung Oaxacas und die mexikanische Bundesregierung aufgefordert, die Verbrechen aufzuklären und Schutzmaßnahmen für die Ejido-Mitglieder von Paso de la Reyna zu ergreifen. Die Bewohner*innen der Ortschaft fordern bisher vergeblich die Entsendung der Nationalgarde. Der lokalen Polizei vertrauen sie ebensowenig wie den lokalen Justizbehörden.

„Allgegenwärtige Angst“

Mitte April in seiner morgendlichen Pressekonferenz auf die jüngsten Verbrechen angesprochen, antwortete Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador ausweichend damit, unter seiner Regierung würden keine weiteren Wasserkraftwerke wie Paso de la Reina mehr gebaut. Es sei ausreichend, die Turbinen vorhandene Werke zu modernisieren. Doch konkrete Maßnahmen, die Bevölkerung vor Ort zu schützen, erwähnte er nicht. COPUDEVER hat vorerst beschlossen, einen Kontrollpunkt an der Zufahrt zu Gemeinde einzurichten. Die Hoffnung ist, damit kurzfristig weitere Morde verhindern zu können. Mittelfristig sehen der Rat und die ihn begleitenden Organisationen nur eine Perspektive, wenn Regierung und Behörden konkrete Schritte gegen die Straffreiheit unternehmen und effektive Ermittlungen durchführen. 

Der Journalist Pedro Matías beschreibt die aktuelle Situation in Paso de la Reyna in einer Reportage als „instinktive Ausgangssperre“. Die Angst vor erneuten Attacken sei allgegenwärtig. Das Motto von MAPDER und COPUDEVER war nie aktueller: „Flüsse für das Leben, nicht für den Tod“.

von Gerold Schmidt

Gerold Schmidt ist freier Journalist und Übersetzer sowie Diplom-Volkswirt. Berichtet seit 30 Jahren zur politischen und wirtschaftlichen Situation in Mexiko und Mittelamerika. Spezialisiert auf die Themen: Menschenrechte, Klimakrise, Umweltbewegungen, Biodiversität, kleinbäuerliche und indigene Landwirtschaft. Als Fachkraft von Brot für die Welt arbeitete er in den 2010-er Jahren beim Studienzentrum für den Wandel im Mexikanischen Landbau (CECCAM) in Mexiko-Stadt.

 

Quellen: amerika21.de/2021/01/247402/mexiko-fidel-heras-cruz-verbrechenlacoperacha.org.mx/presa-paso-de-la-reina-en-oaxaca-cancelada-anuncia-amlo/pagina3.mx/2021/04/en-paso-de-la-reyna-se-respira-la-presencia-de-la-muerte-encarnada-en-personas-desconocidas-temen-otro-ataque/

 

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