Interview

„Soziales und Umwelt gehören von nun an zusammen“

Eine Woche vor der Bundestagswahl erklären zwölf Persönlichkeiten: Klimaschutz ist Freiheitsschutz. Dazu gehört neben der Präsidentin von Brot für die Welt, Dagmar Pruin, auch die Anwältin Roda Verheyen. Sie ist eine der Figuren hinter der teils erfolgreichen Verfassungsbeschwerde im April. Hier erklärt sie, inwiefern das Urteil aus Karlsruhe den Begriff von Freiheit für immer verändern wird.

Von Redaktion am
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Frau Verheyen, welche Bedeutung hat die Bundestagswahl aus Ihrer Sicht?

Sie ist eindeutig eine Klimawahl. Nach Aussage der Klimawissenschaft und des Bundesverfassungsgerichts haben wir in den kommenden zehn Jahren wesentliche Weichenstellungen vorzunehmen, um die gesamte Wirtschaft auf Treibhausgasneutralität umzustellen. Es gibt sehr viel zu tun und das muss die neue Bundesregierung schnell und geschlossen angehen.

In Ihrem Statement sagen Sie gemeinsam mit elf weiteren Persönlichkeiten: „Wer unsere Freiheit schützen will, wählt ernsthaften Klimaschutz.“ Was meint dieser Satz aus juristischer Sicht?

Das Bundesverfassungsgericht hat mit der Entscheidung, die wir erstritten haben, festgestellt, dass bereits jetzt absehbar in Freiheiten künftiger Generationen eingegriffen wird, wenn wir die notwendigen Anstrengungen, Treibhausgase entschlossen zu reduzieren, auf morgen verschieben. Und genau das sagen wir mit diesem Statement aus: Wer Generationengerechtigkeit und die Menschenrechte ernst nehmen will, muss in den nächsten zehn Jahren ernsthaften Klimaschutz betreiben.

Worin liegt die tiefere Bedeutung des Urteils?

Dieses Urteil ist einstimmig ergangen und es ist schlicht historisch. Denn von jetzt an ist für alle Gesetzgeber für immer klar, dass in Deutschland zwei grundlegende Prinzipien zu beachten sind: zum einen das Sozialstaatsprinzip und zum anderen das Recht auf Zukunft samt Schutz der Umwelt zugunsten künftiger Generationen, abgeleitet aus Artikel 20a des Grundgesetzes und den Grundrechten.

Was besagt der Artikel 20a?

Wörtlich steht da: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung.“ Damit verpflichtet er den Staat darauf, die Pariser Klimaziele umzusetzen.

Was folgt daraus, diesen Artikel mit dem Sozialstaatsprinzip zu verknüpfen?

Das heißt, dass Soziales und Umwelt nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden können und dürfen, sondern miteinander in Einklang gebracht werden müssen. Und das gilt von nun an für immer.

In dem Prozess stand nicht allein die sogenannte intergenerationale Gerechtigkeit zur Debatte. Sondern auch die Verantwortung gegenüber den Menschen im globalen Süden, die bereits jetzt massiv unter den Folgen der Klimakrise leiden. Das Gericht hat entschieden, dass Deutschland dafür nicht zur Rechenschaft zu ziehen ist. Warum nicht?

Das Gericht hat die Klägerinnen und Kläger und ihr Anliegen ernst genommen. Es hat aber gesagt, dass der deutsche Gesetzgeber keine Schutzpflichtverletzung begeht, wenn er so handelt, wie er handelt. Denn der Beschluss befasste sich ausdrücklich nur mit dem deutschen Klimaschutzgesetz und deshalb ging es um die Freiheitsrechte künftiger Generationen in Deutschland im Hinblick auf die ansonsten notwendige Vollbremsung – das ist ein Zitat aus dem Beschluss. An der Stelle hat das Gericht die internationalen Kläger nicht mehr obsiegen lassen.

Wie bewerten Sie diese Entscheidung?

Aus meiner Sicht hätte das Bundesverfassungsgericht anders entscheiden können. Die Frage ist, ob andere Gerichte das ebenso sehen werden. Bei den Beschwerden, die im Moment vor dem Europäischen Menschengerichtshof in Straßburg liegen, geht es tatsächlich um die Folgen des Klimawandels und der damit hervorgerufenen Gesundheits- und Freiheitseinschränkungen. Und es kann durchaus sein, dass wir aus Straßburg eine andere Interpretation bekommen, die dann auch in Deutschland rechtliche Auswirkungen hätte.

Lassen Sie uns in die Zukunft blicken: Wie wird sich Deutschland verändert haben bis zur Bundestagswahl 2025?

Ich gehe davon aus, dass im Moment die Gerichte die Geschwindigkeit vorgeben und die Akzente setzen. Die wegweisenden Entscheidungen werden aber in der Wirtschaft getroffen. Klar ist, dass Unternehmen umdenken müssen. Es gibt keinen Bestandsschutz und kein „Weiter so“ mehr. Ich kann mir vorstellen, dass, selbst wenn diese Bundestagswahl nicht so ausgeht, wie wir es uns wünschen, die Entscheidungen in den Konzernzentralen dennoch so getroffen werden, wie wir es uns erhoffen.

Und zwar?

Einzelne Unternehmen geben sich selbst einen Weg in die Treibhausgasneutralität vor. Einfach aufgrund der Kostenfolgen, die sie ansonsten zu erwarten hätten und die in die Management-Entscheidungen einzupreisen sind.

Welcher Auftrag ergibt sich daraus für die Zivilgesellschaft?

Die Klimabewegung auf der Straße und vor den Konferenzsälen hatte noch nie so eine wichtige Aufgabe wie heute. Sie muss jetzt den Druck aufrechterhalten. Wir haben so erschreckend wenig Zeit. In den wenigen Jahren, die uns bleiben, kann man gar nicht genug tun. Wir müssen globale Wirtschaftsprozesse umsteuern in allen möglichen Bereichen: Konsum, Mobilität, Gebäude. Dafür brauchen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik den Mut, die notwendigen mutigen Entscheidungen zu treffen.

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