General al Burhan setzt zahlreiche Paragraphen des gemeinsamen politikleitenden Übergangsdokuments außer Kraft. Die Straßen sind voller Militär, allen voran die sog. Rapid Support Forces (RSF), vormals bekannt als „Janjaweed in Darfur“ des mächtigen, überaus reichen Stellvertreters des Generals, Mohamed Hamdan Dagalo (Hemithi). Ein namhaftes deutsches Nachrichtenmagazin titelt: „Die Revolution ist tot.“ Nichts könnte weiter von der Realität entfernt sein als diese Überschrift.
Freunde informieren die Welt über den Putsch
Montagmorgen, kurz vor fünf: Der erste Klingelton der vielen im Laufe des Tages noch folgenden Kurznachrichten weckt mich: „Putsch im Sudan, Hamdok unter Hausarrest, Internet und Telefonverbindungen abgeschaltet, versuch es über andere Kanäle.“ Sofort ist sie da, die bekannte Angst, wie geht es den Freund*innen im Sudan, wer wird evtl. verhaftet oder gar getötet? Sofort aber auch hellwach im Aktivismus-Modus… Bald darauf schon die ersten Anfragen aus vielen Richtungen: Was genau ist da passiert? Die Antwort darauf auch am Tag danach: Wir wissen es nicht.
Der alte Plan der Alleinherrschaft
Niemand kann bisher sicher sagen, was die militärischen Mitglieder der seit der Dezember-Revolution (2018/2019) und dem Sturz des langjährigen Diktators Omer al Bashir gemeinsamen Übergangsregierung veranlasst hat zu denken, gerade jetzt sei der geeignete Zeitpunkt, endlich allein regieren zu können, ohne die lästigen zivilen Kräfte. So hatte man es zu Beginn zwar ohnehin geplant, musste aber aufgrund massiven Drucks insbesondere auch der Afrikanischen Union nachgeben und der Übergangsregierung zusammen mit Mitgliedern ziviler Organisationen sichtlich zähneknirschend zustimmen. Damit hatte nicht der Vorsitzende des gemeinsamen „Souvereign Council“ (SC), General al Burhan, formal das jetzt höchste Staatsamt inne, sondern der von den zivilen Kräften vorgeschlagene Premierminister Abdalla Hamdok, ein Technokrat und ehemaliger VN-Mitarbeiter. Lt. gemeinsamer Vereinbarung. Der Vorsitz des SC sollte in einigen Monaten auch an ein ziviles Mitglied übergehen.
Korruption, Inflation, Gewalt, Armut
Dass der gemeinsame Weg ein sehr holpriger werden würde, war klar: Das Land war und ist durchsetzt von alten korrupten Kadern, die Wirtschaft kontrolliert von genau diesen einschließlich hochrangiger Militärs, mit einer galoppierenden Inflation, andauernden bewaffnete Konflikten, mit tiefer Armut und wiederkehrenden Fluten und Dürren, nicht zuletzt ausgelöst durch die globale Klimakatastrophe. Das alles in einer höchst volatilen, konfliktiven Gemengelage mit den Nachbarländer Äthiopien, Eritrea, Ägypten, Libyen, Tschad, ZAR und Südsudan, einer Region zusätzlich geprägt von einem neuen „Scramble for Africa“ mit westlichen militär-strategischen Interessen auf der einen und arabischen, türkischen, russischen und chinesischen auf der anderen Seite.
Chancen für einen freien Sudan
Entscheidend für den Erfolg des Konzepts eines neuen, demokratischen freien Sudan - das auf großes Wohlwollen und breite Unterstützung, zumindest verbale, der internationalen Gemeinschaft mit ihrem Zusammenschluss „Friends of Sudan“ zählen konnte - war die Frage, ob die zivilen Kräfte, die die durchweg friedliche Revolution über alle politischen und ethnischen Grenzen hinweg getragen hatten, ihre Einheit im scheinbar nach-revolutionären Alltag würden bewahren und ihre Rolle als „Watchdog“ würden ausfüllen können.
Letzteres ist ihnen bis heute hervorragend gelungen, ersteres war erwartungsgemäß wesentlich schwieriger und spielte damit auch den kontrarevolutionären, antidemokratischen Kräften in die Hände. Die militärische Seite war mit dem eigentlich begrüßenswerten Friedensabkommen mit Rebellengruppen aus Darfur und Blue Nile, vermittelt ausgerechnet von General Dagalo, sehr gestärkt worden. Mit den Führern der bewaffneten Gruppierungen zogen 2020 neue Kräfte in Schlüsselstellungen im Kabinett und in den Regionen, die letztlich die Zivilgesellschaft mit ihrem Streben nach Demokratie und Freiheit, auch religiöser, als bestenfalls lästig empfanden.
Die Vorbereitung des Putschs
Einige dieser Führer schürten in den letzten Wochen kräftig das Feuer und unterstützten Demonstrationen mit Rufen nach einer Militärregierung als Allheilmittel für die weiterhin bestehende Armut. Diesen Demonstrationen begegneten andere Kräfte mit Gegendemonstrationen, all dies zusammen mit einem dubiosen Putschversuch im September nahm nun das Militär offiziell zum Anlass, die „Dezemberrevolution zu retten“, den Ausnahmezustand zu verkünden, die Regierung und die Anti-Korruptions-Task Force aufzulösen, Paragraphen des Übergangsdokuments außer Kraft zu setzen wie z.B. den, der der Straflosigkeit für Verbrechen im Amt ein Ende setzte; den, der den ehemaligen islamistischen Machthabern Zugang zu öffentlichen Positionen und in der Privatwirtschaft verwehrte, und den, der die institutionelle, gesetzgebende und Sicherheitssektorreform regeln sollte.
Einfluss auf Lage am Horn von Afrika
Interessanterweise nahm General al Burhan gestern in seiner Rede auch Bezug auf die „legitimen Interessen der Volksgruppe der Beja“ und somit die Lage im Osten des Landes, in dem sich viele Flüchtlinge aus dem Eritrea und Tigray aufhalten. Die Beja forderten seit einigen Monaten, wahrscheinlich vielfältig unterstützt aus Äthiopien und Eritrea, lautstark und gewaltsam ein neues Friedensabkommen. Sollte sich die Militärregierung halten können - allen dringenden Appellen und Androhungen von Maßnahmen aus dem Ausland zum Trotz, einschließlich einer VN SR Dringlichkeitssitzung heute - wird sich die Gemengelage am Horn ganz sicher noch einmal verschieben, Geldmittel zur Unterstützung des Militärregimes werden nicht zuletzt wohl aus dem KSA, den Emiraten und vielleicht auch Ägypten fließen, um nur einige zu nennen.
Die Zivilgesellschaft leistet Widerstand
Aber: Noch ist es nicht so weit! Denn noch viel wichtiger als alle Appelle aus dem Ausland sind die Sudanesen und Sudanesinnen selbst. – Dass ihr Wille, positive Veränderungen herbeizuführen, ungebrochen ist, haben sie sofort gestern wieder bewiesen: zu Tausenden sind sie auf der Straße gewesen, um gegen die Militärübernahme zu protestieren, und haben sich selbst nicht abschrecken lassen, als auf sie mit scharfer Munition geschossen wurde. Unter den vielen jungen Leuten auch zwei ganz alte Freunde von mir, das Ehepaar Abdul und Aisha (Namen geändert).
Nach dem Putsch von 1989 mussten sie lange Zeit im Exil verbringen, haben sich von dort aus immer für demokratische Veränderungen eingesetzt, vor einigen Jahren sind sie zurück gegangen in den Sudan, haben die friedliche Bewegung trotz großer persönlicher Risiken mit aufgebaut, waren 2018/19 mit führend dabei, haben seitdem alles unternommen, um die Demokratisierung weiter voran zu bringen, und werden niemals nachlassen in ihren Bemühungen. „Heute waren wir noch zusammen unterwegs, ab jetzt werden wir je getrennt gehen, falls wieder scharf geschossen wird, damit wenigstens einer von uns dann überlebt, erst einmal, wegen unserer Tochter“, sagen sie gestern Abend, am Ende eines sehr, sehr langen Tages, an dem zahlreiche Verletzte und erste Tote zu beklagen sind.
Die Menschen im Sudan geben nicht auf
Im Sudan gibt es unendlich viele Aishas und Abduls. Die Revolution lebt, und wird weiterleben. Die Sudanesen und Sudanesinnen geben nicht auf. Ihre Sehnsucht nach Freiheit und Frieden ist inzwischen viel größer als ihre Angst- ganz egal, wie lange es dauern wird und wie viele Opfer noch zu beklagen sein werden.