Die Hauptkritik richtet sich an dem von Anfang an dominanten Einfluss der Agrarindustrie und dem Multi-Akteurs-Ansatz. Menschenrechte (Recht auf Nahrung) von an Hunger leidenden Menschen und von Kleinproduzent:innen werden dabei mit Profitinteressen von Agrarkonzernen gleichgesetzt.
Der Kongress in Rom schließt eine fast zweijährige Vorbereitung hin zu einem Gipfeltreffen (UN Food Systems Summit, UNFSS) im September 2021 in New York ab. Im Mittelpunkt der Debatten dieses Prozesses steht der Blick auf die Ernährungssysteme als Ganzes, vom Zustand der Böden, über die Aussaat, Ernte, Verarbeitung, Lieferketten und Märkten bis hin zum Essen auf den Tellern. Die verschiedenen Ernährungssysteme sollen daraufhin untersucht werden, was sie zum Ziel 2 (Null-Hunger) der Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) beitragen. Diese Ursachensuche für den weltweiten Hunger ist an sich schon ein Fortschritt gegenüber der These, die von der Agrarindustrie und der ihr nahestehenden Wissenschaft propagiert wird, der Welthunger könne nur durch intensivere Produktion und höhere Erträge abgeschafft werden.
Der Ruf nach einer Transformation der Ernährungssysteme durch einen UN-Ernährungsgipfel kommt also zur rechten Zeit.
Denn die drastischen Auswirkungen der Covid-19 Pandemie und der sich zuspitzenden Klima- und Umweltkrise auf die globale Ernährungssicherheit und Nahrungsmittelversorgung unterstreicht die Dringlichkeit eines internationalen Umdenkens hinsichtlich unsere Ernährungssysteme. Die Zahl der hungernden Menschen weltweit stieg zuletzt auf 811 Millionen.
Aber beim näheren Hinsehen wird klar, dass der UNFSS-Gipfel wohl eher ein Versuch ist die globale Steuerung (Governance) der Ernährungspolitik zunehmend in die Hände der Industrie und Finanzwelt zu lenken.
Das Forum der Finanz- und Wirtschaftseliten in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen
Der UNFSS ist aus einer Vereinbarung zwischen dem UN-Generalsekretär (António Guterres) und dem Weltwirtschaftsforum entstanden - welche bereits Monate vor der offiziellen Verkündung im Herbst 2019 feststand.
Aber im Gegensatz zu allen UN-Vorgängerkonferenzen zu Ernährungsfragen wurde vorher kein Beschluss in UN-Organisationen erwirkt. Nicht einmal das dafür zuständige Welternährungskomitees (UN-Committee on World Food Security-CFS) wurde in die Gestaltung und Prozesse des Gipfels einbezogen. Die äußerst intransparente und selektive Einsetzung eines Leitungskreises unterliegt auch der starken Kritik des zivilgesellschaftlichen Mechanismus (CSM)/typo3//typo3/des Welternährungskomitees. Mit seinen Mitbestimmungsmöglichkeiten ist das CFS das partizipativste, inklusivste und demokratischste UN-Gremium. Die Mitbeteiligung an CFS Entscheidungen von gewählten Delegierten aller an Nahrungsproduktion beteiligten Gruppen und NROs erlaubt Betroffenen, über die Inhalte zu Ernährungsproblemen und Verpflichtungen der Staaten zur Realisierung ihres Menschenrechts auf Nahrung mitzubestimmen.
Der Multi-Akteurs-Ansatz ersetzt Menschenrechte, Staatenpflichten und Zielkonflikte
Sowohl beim UNFSS-Vorgipfel in Rom als auch bei den vorhergehenden Vorbereitungen der thematischen Aktionsgruppen erhält man oberflächlich den Eindruck, als ob eine gleichberechtigte bunte Mischung aus allen Beteiligten an den Ernährungssystemen sich nur gegenseitig ihre Vorschläge für die Abschaffung von Hunger und Mangelernährung darlegen muss und schon ergibt die Summe der Umsetzungen die Lösung des Problems.
Aber in Wirklichkeit ist dieser Multistakeholder-Ansatz des UNFSS ein großer Rückschritt gegenüber dem inklusiven Ansatz des CFS.
Denn dass alle an einem Tisch sitzen und miteinander reden sollen, kann nicht die zentrale Frage aus der Welt schaffen, wer für Hunger und Armut, für die Klimakatastrophe, Überfischung, Ausbeutung von Menschen und Tieren verantwortlich ist und damit tagtäglich zur Hungerkrise beiträgt und wer die Opfer und wer die Verursacher dieses ungleichen Machtgefälles sind.
Menschen, die Hunger erleiden wird ihr Menschenrecht auf eine gesunde Ernährung verwehrt, Agrarproduzenti:nnen, denen Land und Wasser genommen wird, die kein existenzsicherndes Einkommen erzielen können, werden wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte verweigert und Staaten die das zulassen erfüllen ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen nicht. Diese rechtebasierten Ansprüche sind etwas vollkommen anderes als die Gewinninteressen der Privatwirtschaft und einer von ihr finanzierten Wissenschaft, die damit alles andere als unabhängig ist.
Der UNFSS-Gipfel und der gesamte Prozess leugnen damit fundamentale Unterschiede zwischen Rechten und Interessen. Die Gleichsetzung aller „Stakeholder“ verhindert auch, dass über Zielkonflikte gesprochen wird und sie gelöst werden können durch demokratische Konsensentscheidungen der verantwortlichen Staaten. So wie das jährlich im CFS-Plenum geschieht, auch wenn nicht jede Entscheidung die 100%ige Zustimmung der Zivilgesellschaft findet.
Als alternative Lösung ruft das UNFSS dazu auf, dass Gruppen eigene „freiwillige Selbstverpflichtungen“ veröffentlichen, deren Summe dann die Lösung der weltweiten Ernährungsprobleme und den Welthunger lösen sollen. Das ist nicht nur naiv, sondern auch gefährlich. Denn nicht jeder Beitrag eines „Stakeholders“ kann willkommen sein, wenn er auch noch so viele Millionen US-Dollar investiert und damit aber die Lebensgrundlagen und Rechte von anderen verletzt, wie es seit Jahrzehnten durch die Agrarindustrie vorgemacht wird, z. B. durch Landraub oder unfaire Welthandelsbedingungen, Ausbeutung auf Plantagen oder Verdrängung indigener Gemeinschaften und ihrer Ernährungsvielfalt.
Wissenschaft als Steigbügelhalter von Agrar- und Nahrungskonzernen
Verzichten die Vereinten Nationen auf die Richtschnur Staaten dazu zu verpflichten, das Menschrecht auf Nahrung endlich zu verwirklichen, wird den dominierenden Agrar- und Nahrungsmittelkonzernen, ihren privaten Stiftungen und ihren gesponserten Wissenschaftsakteuren überlassen, mit massivem finanziellem Potenzial ihre gewinnbringenden Lösungen durchzusetzen.
Damit dieser Vorteil für Konzerne nicht verloren geht, fordern einige Mitglieder des Wissenschaftsbeirates des UNFSS/typo3/, ein neues Gremium für den Folgeprozess des UNFSS zu beschließen, eine sogenannte „Schnittstelle Politik-Wissenschaft (IPC)“ für Ernährungsfragen, das „unabhängige“ wissenschaftliche und technologische Staatenempfehlungen formuliert. Damit wäre das Ziel erreicht, das wissenschaftliche Expertengremium (HLPE)/typo3//typo3/des CFS zur Bedeutungslosigkeit zu degradieren. Der Einfluss von Kleinproduzent:innen und NROs auf Forschungsfragen und -methoden und damit auch auf die Ergebnisse und Empfehlungen eines Wissenschaftsgremiums sind Agrarindustrie und ihrer Wissenschaftsgemeinschaft schon lange ein Dorn im Auge.
Mitbestimmung im Welternährungskomitee verteidigen
Gegen die Ziele der Agrarindustrie, die Welternährungsarchitektur für sich zu vereinnahmen, haben wir uns gerade in Rom durch eine Online-Gegenveranstaltung gewehrt./typo3/Dort wurde denjenigen aus der Nahrungsproduktion, der kritischen Zivilgesellschaft und Wissenschaft, die sich auf dem offiziellen Gipfel nicht als Legitimation und Feigenblatt eines falschen Ansatzes missbrauchen lassen wollen, eine Stimme gegeben.
Auch eine Teilnahme am Hauptgipfel in New York im September schließen wir gemeinsam mit dem CSM bisher für uns aus.
Vielmehr wollen wir ebenfalls online als Alternative zum offiziellen Gipfel im September die geleugneten Zielkonflikte des UN-Gipfels zwischen Industrieinteressen und Menschenrechten aufzeigen. Dazu werden wir Partnerorganisationen von Brot für die Welt einladen, Erfahrungen von Produzent:innen mit agrarökologischen Konzepten vorzustellen, die Ernährungsvielfalt und lokale Nahrungsmärkte zur Reduzierung von Hunger und Mangelernährung fördern.
Wir erwarten von der Bundesregierung und den anderen Staaten im CFS, dass sie zumindest den Versuchen zur Spaltung und zum Bedeutungsverlust für das CFS einen Riegel vorschieben. Stattdessen sollte das CFS, dessen Wissenschaftsrat (HLPE) und das CSM noch stärker, politisch und finanziell gefördert werden, um seine Aufgaben besser zu erfüllen. An nachhaltigen, inklusiven Vorschlägen zur Lösung der Ernährungskrisen auf der Basis von Menschenrechten mangelt es nicht. Es fehlt nur immer noch der politische Wille in der Staatengemeinschaft diese umzusetzen und sich gegen Wirtschafts- und Handelsinteressen von Regierungen und Wirtschaft durchzusetzen.
Dank an Astrud Beringer, Koordinatorin FIAN Deutschland für Unterstützung bei Erstellung des Blogs.