In Gesellschaft und Politik wird gegenwärtig intensiv über die Zukunft der Daten-Ökonomie gestritten. Hintergrund dieser Debatte ist die extreme Konzentration von Daten in der Hand weniger Akteure: der digitalen Plattformen. Im Mittelpunkt der Kritik stehen die „Big 7“ der Digitalwirtschaft: Microsoft, Apple, Amazon, Google, Facebook sowie Alibaba und Tencent. Nicht nur ihre Börsenwerte liegen in schwindelerregender Höhe. Sie verfügen auch über exorbitante Daten-Schätze und ziehen aus ihnen, dank ihrer Großrechner und Algorithmen, den mit Abstand größten kommerziellen Nutzen.
Bundesregierung und EU wollen dieser extremen Marktkonzentration etwas entgegensetzen und verfolgen dabei eine Doppelstrategie. Mit eine Reihe von Maßnahmen wollen sie zum einen versuchen, die Macht US-amerikanischer und asiatischer Internetkonzerne einzuhegen. Große Hoffnungen ruhen auf dem, Ende 2020, vorgestellten Digital Service Package, welches nach Einschätzung von Fachleuten, der EU tatsächlich eine wirksame Handhabe gegen die mächtigen Internetkonzerne gäbe, da er u. a. effektive Rechtsdurchsetzung und Verbraucherschutzrechte in der Plattformökonomie möglich macht.
Ohne Daten keine Wettbewerbsfähigkeit
Zur Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit setzt Brüssel zum anderen deutliche Akzente beim Aufbau einer eigenständigen Digitalwirtschaft. Eines der Kernelemente dieser industriepolitischen Initiative, zur Errichtung einer sicheren, souveränen und offenen Dateninfrastruktur, ist das Projekt GAIA-X, Damit Europa zukünftig nicht mehr nur als Datenlieferant dient, soll mittels GAIA-X ein eigenes System zur Vernetzung europäischer Cloud-Dienste geschaffen werden. Europäischen Unternehmen wie auch den Bürger:innen würde mit dieser Data-Sharing-Plattform ein (von US-amerikanischen und chinesischen Cloud-Anbietern unabhängiger) sicherer Datenaustausch gewährleistet werden.
Aber nicht nur Europa entwickelt eigenständige Digital- und Datenstrategien. Zahlreiche Entwicklungs- und Schwellenländer versuchen ebenfalls, ihre Abhängigkeiten von dominanten Internetkonzernen aus den USA und China zu verringern. Nigeria betreibt bspw. eine so genannte Datenlokalisierungspolitik. Die nigerianische Regierung schreibt ausländischen Dienstleistern für Informations- und Kommunikationstechnologie vor, sowohl lokale Technologie zu verwenden als auch sämtliche Daten von Kundinnen und Kunden innerhalb Nigerias zu speichern. Nigeria dienen diese Auflagen dazu, den Aufbau einer eigenen Digitalwirtschaft zu fördern.
Handelsregeln begünstigen Daten-Monopole
Diesen Bestrebungen zur Regulierung der Tech-Konzerne und zum Aufbrechen ihrer Datenmonopole droht jedoch Ungemach. Der Gegenwind kommt aus einem Bereich, den weder (Digitalisierungs)Politiker noch andere gesellschaftliche Akteure, wie Gewerkschaften oder Nichtregierungsorganisationen, die sich für eine gemeinwohlorientierte, inklusive Digitalisierung einsetzen, im Blick(feld) haben: der Handelspolitik.
Fernab der Öffentlichkeit führen seit zwei Jahren Brüssel, Washington, Tokio und Peking sowie über 80 weitere Staaten intensive Gespräche innerhalb der Welthandelsorganisation (WTO), um ein umfassendes Abkommen zum E-Commerce auszuhandeln. Was nach einer harmlosen Standardisierung des Online-Handels klingt, ist bei näherer Betrachtung eine hochbrisante politische Agenda. Geht es vielen der Protagonisten doch vor allem um eine weitere Liberalisierung und Deregulierung des Austauschs mit IT-Gütern, immateriellen Produkten (wie E-Books, Software), Dienstleistungen, - und Daten. Insbesondere die Regelungen zum ’free flow of data‘ sind seit langem ein Zankapfel zwischen den WTO-Mitgliedstaaten. Indien und eine Reihe afrikanischer Staaten sehen die Gefahr, dass die bisherige Einbahnstraße beim Datenfluss zugunsten Facebook, Alibaba und anderen Plattformen für Jahrzehnte völkerrechtlich verbindlich festgeschrieben wird.
Der Handlungsspielraum von Regierungen, die Digitalwirtschaft ihren nationalen ökonomischen und gesellschaftlichen Interessen entsprechend zu regulieren, würde damit erheblich eingeschränkt. Zu einem Zeitpunkt, an dem sich weltweit die Erkenntnis durchsetzt, dass die jahrzehntelange Untätigkeit gegenüber der beispiellosen Machtkonzentration von Big Tech ein Ende haben muss.
Der gestern geleakte 90-seitige Verhandlungstext gibt nicht nur einen Einblick in das bislang hinter Verschluss gehaltene Dokument (Stand: 14.10.2020), sondern bestätigt auch die Befürchtungen vieler Entwicklungsländer. Nach aktuellem Verhandlungsstand müssten (zukünftige) Unterzeichnerstaaten grenzüberschreitende Datenflüsse erlauben. Außerdem wäre es den Vertragsstaaten auch nicht (mehr) erlaubt, von ausländischen Tech-Konzernen die Nutzung oder Errichtung lokaler Computeranlagen zur Voraussetzung machen, um auf ihrem Gebiet Geschäfte zu betreiben. Ausnahmen von diesen Regeln sind nur dann möglich, wenn Lokalisierungsvorschriften „legitimen“ Zwecken dienen und keine „verschleierte Beschränkung“ des Handels darstellen.
Handelsrecht darf Wettbewerb nicht verhindern
Aus der Perspektive zahlreicher Entwicklungs- und Schwellenländer sind solche (handelsrechtlichen) Eingriffe in die Handlungs- und Gestaltungsspielräume ihrer Regierungen nicht sehr überzeugend. Dienen sie doch in erster Linie der Verteidigung des Status quo, das heißt der Konzentration der Datenschätze von Big Data auf wenigen Servern. Sollte sich diese Position bei den noch andauernden Gesprächen der Freunde des E-Commerce durchsetzen, dann würden die Entwicklungs- und Schwellenländer beim digitalen Wandel das Nachsehen haben. Zivilgesellschaftliche Organisationen aus dem Globalen Süden sprechen sich daher dagegen aus, den freien Datenfluss zur obersten Maxime (in der Handelspolitik) zu erklären.
Die UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) warnt ohnehin seit längerem eindringlich davor, handelsrechtliche Weichenstellungen für die Digitalisierung zu einem Zeitpunkt vorzunehmen, wo die technischen Entwicklungen und Dynamiken des digitalen Wandels noch nicht absehbar sind. Eine zu frühe Einbettung der Digitalwirtschaft in das undynamische Handelsrecht könne Innovation mindern.
Aus der Perspektive von Entwicklungs- und Schwellenländern gibt es, nach Ansicht der UNCTAD, noch ein weiteres gewichtiges Argument, gegen eine übereilte Liberalisierung des digitalen Handels. Die Erfahrungen aus dem traditionellen, analogen Handel lehren: Eine handelspolitische Deregulierung geht stets zu Lasten der Länder, die sich auf einem niedrigeren Entwicklungsniveau befinden.
Datensouveränität und Entwicklung: Zwei Seiten derselben Medaille
Die Forderung nach Datensouveränität, die von zahlreichen Akteuren aus dem globalen Süden bereits seit langem gestellt wird, hat sich vor einiger Zeit die deutsche Bundesregierung zu eigen gemacht. Sie ist Bestandteil ihres Konzepts zur Herstellung digitaler Souveränität, mit der die Regierung in Berlin eine Reihe von Anliegen verknüpft, damit Europa die „digitale Transformation von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft selbstbestimmt gestalten kann“ (Staatsministerin und Digitalisierungsbeauftragte Dorothee Bär). Der Schaffung von Datensouveränität kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu. Bundeskanzlerin Merkel betrachtet die Souveränität über Daten, bereits beim Digitalgipfel 2019 in Dortmund, als höchstes Gut - und tragende Säule für digitale Souveränität.
Die Idee einer breiten gesellschaftlichen Beteiligung an der Wertschöpfung aus (personen- aber auch sachbezogenen) Daten erfreut sich inzwischen immer größerer Beliebtheit. Mit dem Motto „No data, no retail“ macht bspw. der Mittelstandsverband darauf aufmerksam, dass KMUs in Deutschland weiter an Wettbewerbsfähigkeit verlieren, wenn die Daten nach wie vor in erster Linie nur den großen digitalen Plattformen zur Verfügung stehen.
Die Herausforderung, die Teilhabe an den Daten zu verbessern wird in den kommenden Jahren weiter stark an Bedeutung gewinnen, da insbesondere die 5G-Technologie den Visionen von Industrie 4.0, software-gestützter Mobilität oder Smart-Cities zu einer breiten Anwendung verhelfen wird. Vorhaben, die bislang noch in den Kinderschuhen stecken. Neben der COVID19-Krise wird der 5-G-Standard der datengetriebenen Wirtschaft ein exponentielles Wachstum verschaffen.
Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen
Was den Industrieländern recht ist, sollten den Ländern des globalen Südens billig sein. Die Gesellschaften im Globalen Süden leiden, mehr noch als die EU, unter der Dominanz chinesischer und US-amerikanischer Plattformen und ‚Datamining‘. Diese Länder werden langfristig nur dann vom digitalen Wandel profitieren, wenn sie im Rahmen dieses Prozesses ihre Chancen auf gesellschaftliche und ökonomische Teilhabe erhöhen. Datensouveränität kommt dabei eine ganz besondere Bedeutung zu. Sie gibt ihnen, wie bereits erläutert, die Möglichkeit, eine eigene, auf ihre lokalen und nationalen Bedürfnisse ausgerichtete, digitale Wirtschaftspolitik zu gestalten.
Vor diesem Hintergrund sollte die EU sich zukünftig, gemeinsam mit Regierung aus dem globalen Süden, für das Prinzip der Datensouveränität einsetzen, um eine auf die jeweiligen nationalen Bedürfnisse zugeschnittene eigenständige Digitalwirtschaft verwirklichen zu können. Eine solche Gestaltungsspielräume einschränkende Handelspolitik darf ihnen dabei nicht im Wege stehen. Wenn Daten das Rohöl des 21. Jahrhunderts sind, dann dürfen wir mit Blick auf den Globalen Süden die Fehler der Vergangenheit (Rohstofflieferant hier, Wertschöpfung dort) nicht wiederholen. Für die WTO heißt das: Die Regeln für den elektronischen Handel müssen der Mehrheit ihrer Mitglieder dienen, nicht sieben großen Unternehmen.