In diesem Jahr konnte die re:publica mit hohem Besuch aufwarten. Als erster Bundeskanzler besuchte Olaf Scholz die Konferenz zur Digitalisierung. Ein paar Stunden zuvor hielt an gleicher Stelle sein Minister für Digitales, Volker Wissing, seine erste programmatische Rede zur Digitalpolitik. Beide sprachen viel von der Freiheit im Netz, die es zu schützen gelte, und der zunehmenden Gefahr des Missbrauchs durch China, Russland und andere autoritäre Staaten. Die sogenannte Zeitenwende war allgegenwärtig.
Das Anfang des Jahres von der Bundesregierung vorgestellte Programm zur deutschen G7-Präsidentschaft hatte bereits die Bedeutung demokratischer Prinzipien und universeller Menschenrechte im digitalen Raum betont. Ziel sei eine stärkere internationale Koordination der G7 bei der Festlegung von Standards und Normen, und die Entwicklung einer globalen digitalen Ordnung.
Digitale Benachteiligung
Wer den Anspruch erhebt, eine globale Ordnung für die digitale Sphäre zu entwickeln, sollte auch die Probleme adressieren, die für die Mehrheit der Weltbevölkerung besonders relevant sind: digitale Kluft, Oligopole, Data-Mining.
- 3,6 Milliarden Menschen haben keinen Internetanschluss, die meisten leben in Entwicklungs- und Schwellenländern.
- Die Konzentration von Daten, Macht und Profit bei wenigen Digitalkonzernen hat sich weiter verschärft. Über die Hälfte der Marktanteile der Plattform-Ökonomie entfallen auf die „Big Five“ des Silicon Valley, Afrika und Lateinamerika kommen zusammen auf weniger als zwei Prozent.
- Keine Region der weltweit leidet so stark unter Daten-Mining, fehlendem Rechtsschutz und digitaler Ausbeutung wie der globale Süden. Nur knapp die Hälfte der afrikanischen Staaten verfügt über ein Datenschutzgesetz, bei Verbraucherschutz und Cybersicherheit bestehen ebenfalls erhebliche rechtliche Defizite.
Zeitenwende sticht Gemeinwohl
Galt nicht vor kurzem noch die politische Regulierung der (all)mächtigen Digitalkonzerne als wichtigste Voraussetzung zur Schaffung einer am Gemeinwohl orientierten, bürgernahen Gesellschaft? Leider findet sich dazu kein Wort in der von den sieben Digitalministern am 11. Mai 2022 verabschiedeten gemeinsamen Erklärung. Joe Biden und Zeitenwende machen es möglich: Europa setzt wieder auf die transatlantische Allianz. Vergessen scheinen Edward Snowden und NSA-Skandal.
Paternalismus statt Multilateralismus
Was ist mit dem viel beschworenen Multilateralismus? Wollen allen Ernstes sieben Regierungen – unter Ausschluss von 186 Staaten – entscheiden, welche Standards und Normen zur Grundlage einer globalen Ordnung gemacht werden?
Bei seiner Rede auf der re:publica forderte der Bundeskanzler, Europa müsse bei der Digitalisierung souveräner werden. Wo bleiben die Menschen in Indien, Uganda und Ecuador? Die G7 kann und darf diese Entscheidungen nicht für sie treffen. Paternalismus ist das Letzte, was die Länder des globalen Südens brauchen. Zumal sie aus der Vergangenheit wissen: Hinter wohlklingenden Worten steckt oft brutales Eigeninteresse.
Digitale Souveränität für alle
Scholz‘ Aufruf, Europa solle sich „vom Rule-Taker zum Rule-Maker entwickeln“, muss sich deswegen an die gesamte Menschheit richten. Neue Regeln, die den Anspruch auf weltweite Gültigkeit erheben, kann nur die gesamte internationale Staatengemeinschaft entwickeln im Rahmen der Vereinten Nationen. Im Vorfeld des Treffens der sieben Digitalminister hatten die Vertreter von Gewerkschaften und Zivilgesellschaft aus den G7-Staaten bereits gefordert, allen Ländern auf der Welt digitale Souveränität zu ermöglichen.
Brot für die Welt schließt sich dem an und fordert: Die G7 muss sich für globale Internet-Regeln einsetzen, um die digitale Souveränität aller Staaten zu stärken. Der Rahmen dafür sind die Vereinten Nationen, und die Entwicklungsländer gehören natürlich dazu.