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Forderungen aus der Zivilgesellschaft im Sahel

„Dieser Gipfel muss der Zivilgesellschaft direkt das Wort erteilen. Er muss den Menschen an der Basis zuhören.“ (L.S., Burkina Faso)

 

Im Vorfeld des AU-EU Gipfels unter französischer EU-Ratspräsidentschaft äußern sich Partnerorganisationen von Brot für die Welt im Sahel (Mali, Burkina Faso, Niger und Tschad) zur aktuellen Situation und ihren Forderungen an die EU.

Von Floretta Kayales am
Tour de l'Afrique in Bamako, Mali

Tour de l'Afrique in Bamako, Mali

In den deutschen Medien mehren sich Berichte über Staatsstreiche in Westafrika, über die diplomatische Krise, welche die ehemalige Kolonialmacht Frankreich mit Mali und anderen Ländern im Sahel hat, über die Rolle Russlands und über das deutsche Bundeswehrmandat in der Region. Berichterstattungen und Analysen nehmen jedoch viel zu selten die Situation der Zivilbevölkerung in den Blick.

Die Menschen in der Sahelregion stehen in ihren jeweiligen Ländern vor ähnlichen Herausforderungen, auch wenn es Unterschiede in den einzelnen Regionen gibt. Seit über 10 Jahren leben mittlerweile große Teile der Bevölkerungen vor allem außerhalb der Hauptstädte in Mali, Burkina Faso, Niger und zum Teil auch im Tschad unter dem Einfluss von unterschiedlichen gewaltbereiten bewaffneten Gruppierungen und der Zugang zu Basisdienstleistungen wie Gesundheitsversorgung, Bildung und Ernährung ist erschwert oder gar unmöglich.

Fehlender Zugang zu Basisdienstleistungen

„Die Bedrohung durch den Terrorismus führt nicht nur zum Verlust von Menschenleben, sondern auch zu einer massiven Vertreibung der Bevölkerung. Die Vertriebenen haben keine Mittel mehr, um ein menschenwürdiges Leben zu führen“ schreibt der Vertreter einer burkinischen Partnerorganisation. „Da die Menschen fliehen und ihre Ernten und ihr Vieh plündernden Terroristen zurücklassen mussten, steigen die Kosten für Lebensmittel auf allen Märkten: So kostet beispielsweise ein Sack Mais, der früher in der Gegend von Bobo-Dioulasso [im Südwesten Burkina Fasos] bis zu 14.000 FCFA [ca. 20 EURO] kostete, mittlerweile bis zu 26.000 FCFA [knapp 40 EURO],“ also eine Verdopplung des Preises, die vor allem die arme Bevölkerung trifft. Politische Entscheidungsträger haben in den letzten Jahren leider zu selten die Interessen der Bevölkerung in den Mittelpunkt gestellt: „Viele der Wasser-, Gesundheits-, Schul- und Straßeninfrastrukturen sind schlecht gebaut und nicht nachhaltig. Bildung, die Grundlage jeder Entwicklung, wird nicht wirklich unterstützt, sodass viele Kinder keinen Zugang zu Schulbildung haben“ beschreibt ein weiterer burkinischer Partner die aktuelle Situation.

Kein Sicherheitsgefühl trotz internationaler Militärinterventionen

Die Abwesenheit von staatlichen Institutionen und Dienstleistungen in mehreren Regionen des Landes, schlechte Regierungsführung und Korruption werden auch von Partnern in Mali als wichtige Faktoren für die Komplexität der derzeitigen Situation genannt. „Doch trotz der Anwesenheit tausender ausländischer Soldaten vergeht in Mali kaum ein Tag ohne Angriffe auf die Zivilbevölkerung durch islamistisch orientierte bewaffnete Gruppen. Täglich finden Kampfhandlungen zwischen diesen und den malischen Verteidigungskräften mit ihren ausländischen Unterstützern (G5 Sahel, Barkhane und weitere europäische Streitkräfte) statt. Die Wirksamkeit des Einsatzes der MINUSMA im Mali-Konflikt wirft mittlerweile bei der Bevölkerung viele Fragen auf.“ stellt ein malischer Partner die Situation dar.

Vertrauensverlust in die demokratisch gewählten Vertreter*innen

Auch im Niger finden seit Wochen Demonstrationen statt, die eine Änderungen in der aktuellen Politik fordern: „Die Bevölkerung, die alltäglich Gewalt erlebt, verliert die Hoffnung auf eine kurzfristige Rückkehr zum Frieden. Die Jugend ist es leid, auf Arbeitsmöglichkeiten zu warten, ein Aufbegehren der Zivilgesellschaft wird erstickt.“ schreibt die Mitarbeiterin einer nigrischen Partnerorganisation. Die Bevölkerungen verlieren zunehmend das Vertrauen in ihre demokratisch gewählten Vertreter*innen, da diese ihren Aufgaben nicht gerecht werden: „Die Unfähigkeit des demokratisch gewählten Regimes, das [Sicherheits-]Problem zu bewältigen, führte am 24. Januar 2022 zu einem Militärputsch [in Burkina Faso]. Das heutige Burkina Faso ist in seiner Existenz als Staat bedroht und niemand weiß, was die Zukunft bringen wird.“ sagt ein burkinischer Partner.

Staatsstreiche werden unterschiedlich bewertet

In den letzten eineinhalb Jahren haben in drei der vier Länder Militärangehörige die Regierungsverantwortung übernommen: im Tschad, in Mali und nun auch in Burkina Faso. Doch die Reaktionen auf die Staatsstreiche sind auf nationaler und internationaler Ebene sehr unterschiedlich: Nachdem die malische Übergangsregierung um Oberst Goïta ihr Mandat nach einem nationalen Verhandlungsprozess mit zahlreichen lokalen ‚Nationalversammlungen‘ für mehr Entscheidungsbeteiligung der Bevölkerung um mehrere Jahre verlängert wollte, verhängten die westafrikanischen Staaten- und Währungsbündnisse ECOWAS und UEMOA Anfang Januar 2022 ein Embargo gegenüber Mali, das u.a. Handels- und Reisefreiheit einschränkt. Von Frankreich und auch der EU werden diese Sanktionen unterstützt. Da diese Einschränkungen jedoch vor allem die Menschen in ihrem Alltag treffen, führte diese Entscheidung zu großen Protesten der Zivilbevölkerung - nicht nur in allen Landesteilen Malis, sondern auch in Nachbarländern wie Senegal, Burkina Faso und Niger: „Das derzeitige Vertrauen, das die überwiegend junge Bevölkerung den malischen Übergangsbehörden entgegenbringt, ist ein Garant für Hoffnung auf sozialen Zusammenhalt, wenn sie von den internationalen Partnern unterstützt werden.“ Diese Aussage eines malischen Partners und viele Reaktionen in den sozialen Medien und auf den Straßen des Landes zeigen, dass aktuell auch große Teile der Bevölkerung hinter ihrer derzeitigen Regierung stehen. „Die Sanktionen der ECOWAS haben die Malier*innen zusammengeschweißt und selbst diejenigen, die gegen die Verlängerung des Übergangs waren, verurteilen diese."

"Die Idee, dass das Land vor der Rückkehr zu einer ‚normalen Verfassungsordnung‘ neu gegründet werden muss, wird von fast allen Organisationen der Zivilgesellschaft geteilt. Eine Reihe struktureller Fragen und Reformen zu Sicherheit, Regierungsform und Institutionen müsste vor der Abhaltung neuer Parlaments- und Präsidentschaftswahlen geklärt werden, um weitere Krisen zu vermeiden.“ ergänzt ein weiterer Partner.

Welche Interessen verfolgt Europa in der Sahelregion?

Während mittlerweile die Junta in Mali und teilweise auch in Burkina Faso mit steigender Zustimmung aus der Zivilbevölkerung regieren, wird der selbsternannte Militärrat um den Sohn des langjährigen Präsidenten Déby im Tschad von Opposition und Zivilgesellschaft stark kritisiert: „Alle friedlichen Demonstrationen werden systematisch und mit Gewalt unterdrückt, was zu Verletzten und Todesopfern führt“, berichtet der Vertreter einer Menschrechtsorganisation im Tschad, und damit wird das System von Menschenrechtsverletzungen der letzten Jahrzehnte fortgeführt. Vertreter*innen der Zivilgesellschaft stellen daher offen die Frage, warum die Europäische Union die Militärjunta im Tschad akzeptiert, obwohl Zivilgesellschaft, Opposition und Bevölkerung diese kritisieren, während sie Sanktionen gegen die malische unterstützt, obwohl jene derzeit großen Zuspruch aus der Bevölkerung erhält. Auch die kürzlich angekündigte Verschiebung des Dialogprozesses zur Vorbereitung der Wahlen durch die tschadische Übergangsregierung hat kaum zu internationalen Reaktionen geführt. In diesem Zusammenhang wird in der Zivilgesellschaft die kritische Frage nach den Eigeninteressen Frankreichs, anderer westlicher Länder und auch Russlands lauter.

Die Bevölkerungen wollen jedoch nicht zum Spielball externer internationaler Politik „wie im kalten Krieg“ werden: „Mali befindet sich mitten im Aufbau einer Demokratie, einer kulturellen Demokratie, die sich um die Würde und Souveränität der Bevölkerung dreht. Es beginnt endlich eine Entkolonialisierung, die nie wirklich stattgefunden hat“ schreibt der Vertreter einer Organisation in Mali. „Wir müssen uns respektiert fühlen, wir haben interne Kapazitäten:Lasst uns Afrikaner und Afrikanerinnen Lösungen finden, die an unsere Kontexte angepasst sind“, appelliert auch die Vertreterin einer Partnerorganisation aus dem Niger.

Forderungen an eine afrikanisch-europäische Politik im Sahel

Aufgrund der geographischen Nähe sowie den wirtschaftlichen und menschlichen Verbindungen zwischen den Kontinenten wird Europa als wichtiger Partner für gemeinsame Veränderungen genannt. Im Vorfeld des AU-EU Gipfels wurden Wünsche und Forderungen aus dem zivilgesellschaftlichen Partnerumfeld von Brot für die Welt im Sahel formuliert: Im Mittelpunkt steht ein Überdenken der derzeitigen Haltung Europas gegenüber Afrika hin zur Entwicklung einer echten Partnerschaft:

  • Die EU muss zunächst ihre Haltung ändern und einen anderen Blick auf Afrika im Allgemeinen und den Sahel im Besonderen werfen. Sie muss als gleichberechtigter Partner auftreten, der kulturelle, soziale und sprachliche Vielfalt respektiert und unterstützt.
  • Die Ausplünderung Afrikas durch die westlichen Mächte sollte kein Tabuthema mehr sein. Eine autonome Agrarwirtschaft (Landwirtschaft, Viehzucht, Fischerei), lokale Verarbeitung und Vermarktung, aber auch Infrastruktur und soziale Grunddienste (unter Berücksichtigung von Umwelt- und Klimafaktoren) sollten dabei im Vordergrund stehen. Afrika ist in der Lage, seine Ernährungs-, Energie-, Gesundheits- und Kultursouveränität zu erlangen.
  • Die Mehrheit der zivilgesellschaftlichen Organisationen wünscht sich einen Paradigmenwechsel in der Politik der EU-Mitgliedstaaten: Die Frage der Demokratie sollte nicht nur auf die Durchführung von Wahlen reduziert werden, sondern auch alle anderen Aspekte der verantwortungsvollen Staatsführung wie Korruptionsbekämpfung, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sowie die Verbesserung der Lebensbedingungen berücksichtigen. Hierbei sollten Entwicklungs- und Regierungsinitiativen unterstützt werden, die von unten nach oben aufgebaut sind und die mit den kulturellen und soziologischen Werten der Gemeinschaften in Verbindung stehen.
  • Die EU sollte dazu beitragen, Ermittlungen zu den Unterstützern der djihadistischen Gruppen, die in der Sahelzone operieren, durchzuführen, um deren Versorgungsquellen aufzudecken und somit die Sicherheit der Bevölkerung wieder herstellen zu können.
  • Angesichts der (diplomatischen) Krise, in der sich v.a. Frankreich und die Länder im Sahel derzeit befinden, sollte die EU eine Vermittlerrolle spielen: „Ein Großteil der Bevölkerung glaubt nicht mehr an die Unterstützung Frankreichs. Sie wünschen sich Respekt und eine gleichberechtigte Partnerschaft. Wir fordern die Anerkennung unserer Autonomie in Verwaltung und Zusammenarbeit. Auch Deutschland kann bei der Vermittlung unterstützen."

Im Zentrum aller Forderung steht, dass den Menschen in den Ländern zugehört, ihre Meinungen ernst genommen, ihre Bedürfnisse sowie ihr Recht auf ein Leben in Sicherheit anerkannt und unterstützt werden.

Der Text basiert auf Meinungsäußerungen von verschiedenen Partnerorganisationen von Brot für die Welt in Mali, Burkina Faso, Niger und Tschad vom Januar 2022.

Brot für die Welt ist Mitglied im zivilgesellschaftliches Netzwerk Fokus Sahel, das zu friedens- und entwicklungspolitischen Themen im Sahel arbeitet. Inhaltlichlicher Austausch besteht darüber ebenfalls zum Sahelausschuss der VAD e.V.

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