In dem Heft 3/2022, das Mitte August erschien, geht es sowohl um die Eskalationsdynamik und Möglichkeiten der Beendigung des Kriegs, als auch um dessen Folgen und Einordnung in historische und globale Perspektiven. Thomas Würdinger (Vorstand der IG-Metall) umreißt in einem einleitenden Gastkommentar die sozioökonomischen Auswirkungen des Kriegs und fordert eine friedenspolitische Debatte, die auf „simplifizierenden Populismus, angebliche Alternativlosigkeit und spaltende Rhetorik“ verzichtet und auf diskursiven Austausch von Argumenten setzt. Wolfgang Schreiber (Leiter der AG Kriegsursachenforschung an der Uni Hamburg) ordnet den Krieg Russlands gegen die Ukraine in die Forschung zu Kriegsbeendigungen ein und sucht nach vergleichbaren Szenarien. Waffenlieferungen, so seine Vermutung, könnten „zunächst einmal nur dazu beitragen, dass die Ukraine den Krieg nicht in absehbarer Zeit verliert.“ (13) Weiteres sei schwer vorherzusagen. Waffenlieferungen führten in der Regel zur Verlängerung von Kriegen. Zu deren Beendigung könnten diplomatischer Druck und Sanktionen beitragen, dafür müssten sich dann aber ausreichend viele Staaten anschließen. Im Augenblick, so die nüchterne Bilanz, deute nichts auf ein baldiges Ende des Krieges hin. Auch im historischen Vergleich hätten Kriege, an denen Großmächte beteiligt waren, vergleichsweise lang gedauert. Als Alternative verweist der Autor auf Punkt 14 der Resolution der VN-Generalversammlung vom 18.3.2022, in der die Kriegsparteien aufgefordert werden, den Konflikt durch „politischen Dialog, Verhandlungen, Vermittlung und andere friedliche Mittel“ beizulegen. Weitere Beiträge von Hans-Jörg Kreowski und Jan Niklas Rolf widmen sich der Dynamik des Krieges und den waffentechnischen Mitteln (vor allem dem Einsatz von Drohnen). Zudem enthält das Heft einen feministischen Essay von Magdalena Fackler. Sie kommt zu dem Schluss, infolge des Ukraine-Kriegs würden alte Narrative und Sicherheitsvorstellungen gegenseitiger Abschreckung erneut platziert, die in langer Tradition patriarchaler „Sicherheit“ stehen. Kathrin Buddendiek und Lena Heuer untersuchen Spannungen, die im Zuge der Versorgung von Geflüchteten in Kommunen entstehen und fordern eine konfliktsensible Gestaltung von Hilfsmaßnahmen.
Die Eskalationsspirale durchbrechen
Der Beitrag aus dem Referat Menschenrechte und Frieden von Brot für die Welt (Martina Fischer) trägt den Titel: „Die Eskalationsspirale durchbrechen – Impulse für eine neue europäische Friedensordnung“. Er argumentiert, dass trotz anhaltender Gewalt und massiver Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen – die juristisch geahndet werden müssen – nach diplomatischen Auswegen gesucht werden muss, die eine Beendigung der Kampfhandlungen anstreben. Gesprächsforen sind aber auch erforderlich, um eine Ausweitung und atomare Eskalation zu verhindern. Die Hoffnung auf eine europäische Sicherheits- und Friedensordnung dürfe nicht aufgegeben werden, auch wenn diese kurzfristig nicht umsetzbar ist. Auf lange Sicht benötigt sie neue Impulse: Mechanismen der Rüstungskontrolle, die sträflich vernachlässigt und reihenweise abgeschafft wurden, müssen auf europäischer und globaler Ebene wiederbelebt werden, um einem neuen und gefährlichen Rüstungswettlauf vorzubeugen.
Der Beitrag ist in in deutscher Sprache auf der Website von W&F und in englischer Sprache auf der Website von Brot für die Welt für die Welt erhältlich.
Eine ausführlichere Fassung wurde am 26. April 2022 mit dem Titel „Die Hoffnung auf eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsarchitektur nicht aufgeben” von der Bundeszentrale für politische Bildung im "Deutschland Archiv" veröffentlicht.
Friedenslogische Perspektiven
Wissenschaft & Frieden gibt friedenslogischen Perspektiven breiten Raum. Die Konflikt-Ethikerin Lisa Neal (ITF Hamburg) präsentiert eine fundierte Reportage einer Reise, die sie im Herbst 2021 in der Ukraine unternahm. In der Schilderung persönlicher Eindrücke nähert sie sich den Konflikten im Lande. Weiterhin enthält das Heft einen Beitrag von Mitgliedern der AG Friedenslogik in der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung, der sich mit dem Unterschied von „Friedenslogik“ und „Kriegslogik“ befasst. Die AutorInnen leiten aus der „friedenslogischen Heuristik“ im Kriegskontext einige handlungsleitende Imperative ab: Ziel müsse sein, die Gewalt zu beenden, den Konflikt zu deeskalieren und zu transformieren, Opfer zu schützen, Völkerrecht und Menschenrechte zu stärken und Selbstreflexion und Empathie zu fördern, sowie über eine mögliche Ordnung nach dem Ende des Kriegs nachzudenken. Sie halten dafür die „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ für den geeigneten Ort, weil sie „eine inklusive Einrichtung der Staatenwelt mit Scharnieren zur Zivilgesellschaft“ bilde (11). Für „friedenslogische Perspektiven“ zum Ukrainekrieg wirbt auch Jürgen Scheffran (Professor für integrative Geographie und Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit an der Uni Hamburg. Er vergleicht die aktuelle weltpolitische Situation mit den Umbrüchen von vor hundert Jahren und zeigt sich besorgt über die Wiederkehr von Geopolitik nicht nur in der Politik, sondern auch in den medialen Diskursen. Zudem befürchtet er, dass vor allem die unabhängige Friedenswissenschaft unter Druck gerate. Geopolitik habe die Politik der Großmächte in den vergangenen Dekaden angetrieben, und angesichts der neuen Konfrontation sähen auch Staaten des globalen Südens Chancen, ihre Interessen als geopolitische Akteure in dieses Machtspiel einzubringen – wie schon im Kalten Krieg des vergangenen Jahrhunderts. Gelinge es dem Kreml, eine neue Spaltung der Welt herbeizuführen, wäre dies für ihn ein Erfolg, der weit über den Ukrainekrieg hinausweist. Um das zu verhindern, müsse der Westen deutliche Akzente setzen. Noch mehr Ressourcen in Rüstung zu investieren, sei kein überzeugendes Projekt, um die Länder des globalen Südens zu gewinnen. Es brauche eine „Zeitenwende“, die nicht auf globale Aufrüstung setzt, sondern auf „resiliente Energieversorgung und nachhaltigen Klimaschutz innerhalb planetarischer Grenzen, die auch der Friedenssicherung dienen und Wege in eine lebensfähige und lebenswerte Welt (…) im gemeinsamen Haus der Erde aufzeigen“ (32).
Unterschiedliche Sichtweisen in Europa und im Globalen Süden
Auch der Beitrag von Chunchun Hu (Professor an der Shanghai International Studies University), argumentiert aus Sicht des globalen Südens und zugleich mit umfassender Kenntnis europäischer Geschichte. Er verdeutlicht, dass die in den westlichen Ländern inzwischen gängige Metapher vom „Kampf zwischen Demokratie und Autokratie“ in den Ländern des Südens ambivalent aufgenommen und angesichts jahrhundertelanger Kolonialerfahrungen nicht ohne weiteres geteilt, sondern teilweise als „euro-, bzw. westzentrisch und bigott“ empfunden werde. Entsprechend fehle es diesen Narrativen auf globaler Ebene an Überzeugungskraft. Zudem arbeitet der Autor überzeugend heraus, wie der Ukraine-Krieg die „nationalstaatliche Geschichtslogik erneut in den Mittelpunkt des Denkens zur Gestaltung Europas“ rückt. Er wertet es als Paradox, dass die Europäische Union mit ihrer postnationalen Verfasstheit und postmodern orientierten Lebensform ausgerechnet die Ukraine in der Nationalisierung fördere. Zugleich könne die EU jedoch mit ihrer Erfahrung der Versöhnung von ehemaligen Erzfeinden (Frankreich und Deutschland) und der weitgehenden Integration innerhalb von ein bis zwei Generationen perspektivisch auch als historisches Vorbild dienen, weil sie selbst für eine „weltgeschichtlich beispiellose Erfolgsgeschichte“ stehe (29).