Der seit 2014 andauernde Konflikt hat bereits 16.000 Menschenleben gefordert und zur Vertreibung von 1,5 Millionen Menschen geführt. Dabei wurden auch zivile Infrastruktur, darunter Privathäuser, Krankenhäuser und Schulen, beschädigt oder zerstört – und damit grundlegende Menschenrechte auf Wohnung, Gesundheit und Bildung verletzt. Die massive Eskalation und die Ausweitung der Kämpfe auf das ganze Land durch Russland drohen nun zu einer humanitären wie menschenrechtlichen Katastrophe zu werden. Bereits jetzt hat das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte über 400 Todesfälle von Zivilist:innen dokumentiert, darunter auch mehrere Kinder. Die Zahl der Flüchtenden steigt täglich und geht in die Hunderttausende.
Beobachtung durch das internationale Menschenrechtssystem
Die Hohe Kommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen, Michelle Bachelet, hat die Kriegsparteien deshalb zur Einhaltung der Genfer Konventionen aufgefordert. Diese sehen unter anderem vor, dass Angriffe ausschließlich auf militärische Ziele gerichtet sein dürfen und die Zivilbevölkerung so gut wie möglich vor Schaden geschützt werden muss.
Im bisherigen Konflikt haben beide Seiten dieses Prinzip verletzt, indem sie z. B. Explosivwaffen in Wohngegenden einsetzten. Gerade russische Truppen haben sich bereits in der Vergangenheit schwerster Verletzungen des humanitären Völkerrechts und damit Kriegsverbrechen schuldig gemacht. In Syrien haben russische Luftangriffe gezielt Schulen und Krankenhäuser zerstört und dabei hunderte Zivilist:innen getötet.
Die internationale Gemeinschaft muss die bereits erfolgten wie auch die bevorstehenden Kriegshandlungen genau beobachten und mögliche Verletzungen des Völkerrechts dokumentieren. Die Mitglieder des UN-Menschenrechtsrats haben diese Woche mit großer Mehrheit beschlossen, der Situation in der Ukraine eine Sondersitzung zu widmen. In dieser sollte der Rat sowohl einen Monitoring-Mechanismus etablieren, der die Einhaltung von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht überwacht, als auch unverzüglich ein langfristiges Mandat für eine:n Sonderberichterstatter:in zu Russland einrichten. Wie nicht zuletzt die Massenverhaftungen von Antikriegsprotestierenden zeigen, gibt es eine klare Verbindung zwischen der Repression, die der russische Staat gegen die eigene Zivilgesellschaft ausübt und den Völker- und Menschenrechtsverletzungen, für die er im Ausland verantwortlich ist.
Möglichkeiten des Völkerstrafrechts
Die Mechanismen der UN müssen auch eng mit dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) kooperieren. Bereits nach der Besatzung der Krim durch Russland im Frühjahr 2014 hatte die Ukraine den IStGH ermächtigt, auf ihrem Territorium begangene Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu untersuchen und gegebenenfalls zur Anklage zu bringen. Im Dezember 2020 schloss der Chefankläger des Gerichts, Karim Ahmad Khan, seine vorläufigen Ermittlungen ab und stellte fest, dass es ausreichend Hinweise auf schwerwiegende Verletzungen gebe, die die Aufnahme von formellen Ermittlungen rechtfertige. Nun kündigte Khan nicht nur an, die aktuellen Entwicklungen genau zu beobachten, sondern hat auch die Aufnahme einer formellen Ermittlung beantragt.
Unter dem Weltrechtsprinzip könnten auch in Deutschland solche Ermittlungen aufgenommen werden. Hier macht das Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) eine Verfolgung internationaler Völkerrechtsverbrechen durch nationale Gerichte möglich.
Mit dem völkerrechtswidrigen Angriff hat sich die russische Führung auch dem „Verbrechen der Aggression“ schuldig gemacht. Nach dem Rom-Statut des IStGH fallen darunter die „Planung, Vorbereitung, Einleitung oder Ausführung einer Angriffshandlung, die ihrer Art, ihrer Schwere und ihrem Umfang nach eine offenkundige Verletzung der Charta der Vereinten Nationen darstellt“ (Art. 8).
Im Gegensatz zu möglichen Anklagen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen scheint eine Verfolgung wegen des Tatbestands der Aggression durch internationale Gerichte aber aussichtslos. Angehörige von Nichtmitgliedsstaaten des IStGHs können nur dann in Den Haag vor Gericht gestellt werden, wenn der UN-Sicherheitsrat den Fall überweist. Durch seine Vetomacht dort kann sich Russland davor selbst schützen.
Auch in Deutschland klafft bei der Verfolgung des Aggressionsverbrechens eine Rechtslücke. Denn hier können ausländische Staatsbürger:innen nur dann angeklagt werden, wenn sie sich an einem Angriffskrieg gegen Deutschland beteiligen. Das Weltrechtsprinzip gilt für dieses Verbrechen nicht. Deutschland sollte sich als IStGH-Mitglied dringend für eine Reform des Rom-Status einsetzten, sodass die Beteiligung an völkerrechtswidrigen Angriffskriegen international verfolgt werden kann. Auch seine eigenen Gesetze sollte Deutschland entsprechend abändern.
Dem Menschenrecht auf Frieden Geltung verschaffen
Die wirtschaftlichen Sanktionen, die gegen Russland verhängt wurden und die bereits jetzt ein beispielloses Ausmaß erreicht haben, sind ein wichtiges Zeichen, dass die internationale Gemeinschaft eine solche eklatante Verletzung des Völkerrechts und der Menschenrechte nicht hinnehmen kann. Nicht zuletzt sind sie auch ein wichtiges Zeichen der Solidarität mit der Ukraine und ihrer Bevölkerung. Alle Maßnahmen müssen aber trotzdem permanent auf ihre menschenrechtlichen und humanitären Auswirkungen hin überprüft werden. In allererster Hinsicht müssen sie auf die russische Führung zielen und nicht die Zivilbevölkerung unverhältnismäßig treffen.
Dass Frieden und die Einhaltung von Menschenrechten sich wechselseitig bedingen, macht schon der erste Satz der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte deutlich. Dem Menschenrecht auf Frieden wieder Geltung zu verschaffen muss deshalb oberste Priorität der internationalen Gemeinschaft sein. Dazu müssen unbedingt wieder diplomatischen Verhandlungen aufgenommen werden. Ein menschenrechtsgerechter Frieden wird nur gemeinsam mit Russland geschaffen werden können, so unwahrscheinlich uns das im Moment vorkommen mag.
Unsere Schwesterorganisation Diakonie Katastrophenhilfe ruft zu Spenden auf.