Erleben wir an den EU-Außengrenzen derzeit eine Normalisierung des Notstands? Wird dort bewusst ein Ausnahmezustand produziert und auf Dauer gesetzt, um die Rechte von Flüchtenden auszuhebeln – aber auch Fundamente unserer demokratischen Grundordnung zu untergraben? Und falls dem so ist, mit welchen Strategien und Akteuren können wir uns gegen diese bedrohliche Entwicklung zu Wehr setzen? Dies waren einige der grundlegenden Fragen, die auf der von amnesty international, Brot für die Welt, Diakonie Deutschland, Equal Rights Beyond Borders, ECCHR, Medico, Misereor und ProAsyl organisierten Konferenz diskutiert wurden. Hier der Versuch, diese Diskussion in fünf zentralen Aussagen zu bündeln.
1. An den EU-Außengrenzen steht viel auf dem Spiel – nicht nur das Recht auf Asyl
Normalisierung von Pushbacks, starke Zunahme von physischer Gewalt gegen Asylsuchende, Verleumdungskampagnen gegen Journalist*innen, staatliche Verfolgungen von Menschenrechtsverteidiger*innen – die Fakten, die Konferenzteilnehmende aus unterschiedlichen EU-Grenzregionen präsentierten, waren nicht neu, in ihrer Geballtheit dennoch erschreckend. Wie die niederländische Europaparlamentarierin Tineke Strik in ihrer Keynote deutlich machte, sind Krise und Ausnahmezustand zu zentralen Bezugskategorien der EU-Flüchtlingspolitik geworden, mit der die Auf-Dauer-Stellung von Notfallmaßnahmen gerechtfertigt wird.
Dadurch geraten auch Fundamente unserer demokratischen Grundordnung ins Wanken. Wie schlecht es um die Pressfreiheit an vielen Außengrenzen steht, machte beispielsweise der Hinweis der Journalistin Franziska Grillmeier deutlich, Griechenland sei mittlerweile auf Platz 109 (von 180) des globalen Pressefreiheitsindex abgerutscht. Milena Zajović vom Border Violence Monitoring Network aus Zagreb berichtete, dass acht von zwölf Mitgliedsorganisationen des Netzwerks, welches Pushbacks entlang der Balkanroute dokumentiert, in Strafverfahren verwickelt seien. Gleichzeitig bleiben Verstöße der Mitgliedsstaaten gegen Menschen- und Grundrechte immer öfter ungeahndet – oder Staaten setzen Gerichtsurteile, die diese Verstöße verurteilen, nicht um.
2. Die EU-Außengrenzen enden nicht mehr am Mittelmeer
Die EU-Außengrenzen verlaufen längst nicht mehr allein horizontal durchs Mittelmeer und (Süd-)Osteuropa, sondern haben sich bis weit in unsere Nachbarkontinente ausgedehnt. Dabei finanziert die EU nicht nur die Aufrüstung von innerafrikanischen Grenzen, sondern ordnet auch weite Teile ihrer Außenpolitik gegenüber wichtigen Transit- und Herkunftsländern dem primären Ziel unter, Flucht- und Migrationsbewegungen Richtung Europa zu unterbinden. Die negativen Folgen dieser Externalisierungspolitik für Westafrika schilderten Azizou Chehou und Moctar Dan Yaye vom Alarmphone Sahara aus dem Niger. Dort wurde auf Druck der EU seit 2015 jegliche Form der Migration unter Generalverdacht gestellt und illegalisiert, obwohl 85 Prozent der Migration innerhalb von Westafrika stattfindet und zirkuläre, saisonale Migration eine wichtige Überlebensstrategie vieler Menschen darstellt. Die wirtschaftlichen Folgen der Grenzschließungen für die Region sind fatal. Zudem werde Niger, eines der ärmsten Länder der Welt, mit der immer größer werdenden Zahl an Notleidenden, denen die Weiterreise Richtung Europa verwehrt ist, allein gelassen.
3. Die Hautfarbe ist ein entscheidendes Kriterium für die Durchlässigkeit der EU-Grenzen
Lina Vosyliute vom Brüsseler Think Tank CEPS fand mit ihrer Bemerkung viel Zustimmung, der Ukraine-Krieg habe offengelegt, wie rassistisch die EU-Grenzpolitik sei. Dies zeige sich beispielsweise daran, dass aus der Ukraine fliehenden Roma die Schutzbedürftigkeit oft abgesprochen, und ihnen „Sozialtourismus“ unterstellt werde. Auch nehme das racial profiling an den Binnengrenzen des Schengenraums derzeit stark zu. Die Panelisten aus Ghana und dem Niger berichteten, dass die Ungleichbehandlung von Notleidenden aus der Ukraine und anderen Weltregionen dem Ansehen der EU im Globalen Süden massiv schade. Die Glaubwürdigkeit der EU als globaler Verfechterin von Menschenrechten stehe auf dem Spiel. Mehrere Teilnehmende wiesen in Statements darauf hin, dass das europäische Grenzregime in vielerlei Hinsicht auf dem kolonialen Erbe der europäischen Länder aufbaue, dessen Aufarbeitung erst in den Anfängen stecke.
4. Politische Verbündete für eine menschenrechtsbasierte Flüchtlingspolitik in der EU sind rar
EU-Mitgliedsstaaten wie Kroatien, Polen oder Griechenland höhlen das Recht auf Asyl an den EU-Außengrenzen systematisch aus. Anstatt sich dieser Entwicklung entgegenzusetzen, hat die EU-Kommission ihre Position diesen Staaten in den letzten Jahren immer weiter angenähert. Viele ihrer Vorschläge im Rahmen der geplanten EU Asyl- und Migrationspakts sehen vor, Schutzstandards mit dem Hinweis auf drohende Gefahren oder Überforderung weiter abzusenken. Damit komme die EU-Kommission ihrer Aufgabe, als „Hüterin der Verträge“ die Einhaltung geltender Rechtsvorschriften zu garantieren, nicht mehr nach, betonte Robert Nestler von Equal Rights Beyond Borders.
Diese negative Einschätzung zur EU-Kommission teilte auch Lars Castellucci, migrationspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Um den Flüchtlingsschutz in der EU zu stärken, setze die Bundesregierung stattdessen auf eine „Koalition der Willigen“ [aufnahmebereiten Mitgliedsstaaten]. Konkrete Zusagen, die Aufnahmebereitschaft Deutschland im Zuge von Ressetlement-Verfahren zu erhöhen, machte Lars Castellucci jedoch mit dem Hinweis auf Negativkampagnen der Bildzeitung nicht. Somit blieben er, als auch der Grüne Europaabgeordnete Erik Marquardt Antworten auf die Frage schuldig, mit welchen konkreten Schritten die Bundesregierung die Versprechen des Koalitionsvertrags einlösen zu gedenken, „bessere Standards für Schutzsuchende“ in der EU zu etablieren und „illegale Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen [zu] beenden“.
5. Wir dürfen uns nicht mit der Schizophrenie der Politik an den Außengrenzen abfinden
Einig waren sich alle Diskutierenden, dass die untragbaren Zustände an den Außengrenzen und insbesondere die massive Gewalt, die dort gegen Notleidende verübt wird, wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein gebracht werden müssen – um das Recht auf Asyl, aber auch unsere freiheitliche demokratische Ordnung als Ganzes wiederherzustellen. Das in vielerlei Hinsicht repressive Vorgehen von Staaten gegenüber Menschenrechtsverteidiger:innen an den Außengrenzen ist zwar äußerst bedenklich – zugleich aber auch Indiz dafür, wie unangenehm Staaten diese Arbeit ist – und wie wichtig sie ist und bleibt. Denn trotz aller offensichtlicher Rechtsverstöße versuchen die EU und Mitgliedsstaaten ihrer gewalttätigen Abschottungspolitik einen legalistischen Mantel zu verpassen.
Neben Dokumentation bleiben deswegen auch Rechtskämpfe, beispielsweise in Form von strategischer Prozessführung, wichtig. Allerdings, so Philip Leach von der Middlesex University London, müsse zukünftig noch mehr Energie in die Frage investiert werden, wie aus menschenrechtlicher Sicht positive Urteile auch wirklich umgesetzt werden. Maximilian Pichl von der Uni Kassel wies zudem darauf hin, dass das Recht selbst ein umkämpfter Raum sei. Das reaktionäre politische Klima übersetze sich teilweise auch in konservativeren Rechtssprüche. Von daher sei es wichtig, sich gut zu überlegen, welche Gerichtshöfe (von lokalen bis internationalen) man mit welchen Fällen strategisch nutzen könne.
Vor dem Gerichtshof der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS hat Alarmphone Sahara gerade gemeinsam mit der italienischen Anwaltsorganisation ASGI eine Klage gegen Niger eingereicht. Grund: Niger verstoße mit seiner neuen, von der EU-forcierten restriktiven Grenzpolitik gegen das Freizügigkeitsprotokoll der ECOWAS-Region. Um der Externalisierungspolitik der EU in Afrika etwas entgegenzusetzen, sollten solche Kooperationen zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren dies- und jenseits des Mittelmeers zukünftig stärker ausgebaut werden, plädierten mehrere Teilnehmende in Wortmeldungen.
Petra Bendel von der Friedrich-Alexander Universität erinnerte gegen Ende Veranstaltung daran, dass es laut Umfragen innerhalb der EU eine breite Unterstützung für den Schutz von Flüchtenden gebe - trotz des Erstarkens rechter Parteien. Nur zehn Prozent der EU-Bevölkerung sei negativ gegenüber dem Schutz von Notleidenden eingestellt. Sie appellierte an die Politik, diese Umfragen als Auftrag zu verstehen, den Flüchtlingsschutz wieder stärker und offensiv zu verteidigen, anstatt den Notstand an den Außengrenzen auf Dauer zu setzen.