Doch beginnen wir von vorn: Ein Mann am Kreuz. Ein Opfer von Willkür, ein Opfer einer politisch nützlichen Hinrichtung. Der Gipfel von Hilflosigkeit. Jesus selbst erlebt allergrößte Zweifel an der Anwesenheit Gottes mitten in diesem brutalen Leid. Mit dem Schrei Jesu am Kreuz „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ wird deutlich, dass alles, was in der Welt gequält wird, mit Jesus schreit. In dem Schrei finden Verzweiflung, Resignation, Anklage, Protest und Auflehnung Platz. Und weil Jesus ein Mensch war wie wir, kann sein Leid Stellvertretung sein für alle, die dies erleben mussten und müssen. Mit Jesus protestiert die Menschheit gegen den Tod, gegen Gewalt und gegen Stillstand.
Sich nicht schämen, wortlos zu sein
Derzeit haben viele von uns das Gefühl, persönlich stärker unter internationalen politischen Entwicklungen zu leiden als je zuvor. Die Passionsgeschichte zeigt uns einen Umgang mit Schmerz und Trauer: Zuerst einmal kann uns das Leiden stumm machen. Auszuhalten, dass wir Schwierigkeiten haben, Gottes Wirken in dieser aus den Fugen geratenen Welt noch auszumachen, hat nicht mehr viele Worte. Aber für diese Wortlosigkeit brauchen wir uns nicht schämen.
Im zweiten Schritt setzt das Erleben von Leid Kräfte frei
Die Erzählung vom Kreuz kann uns dabei helfen, trotz der anfänglichen Sprachlosigkeit unsere Augen nicht vor dem Unrecht zu verschließen. In unserem eigenen Land haben wir erlebt, dass Menschen im Angesicht von Leid und Gewalt einander beistehen. Immer wieder hören wir davon, dass Menschen sich spontan einander zuwenden, wenn sie plötzlich Gewalt erleiden. Solche Erlebnisse setzen Kräfte frei. Und diese Kraft stammt für mich aus der Geschichte von Jesus am Kreuz.
Solche Kraft zu spüren, ist eine der Antworten darauf, wie wir dem Leid der anderen begegnen können. Das Leid anderer kann uns nicht kalt lassen, wenn wir sie als geliebte Geschöpfe Gottes sehen. Nicht zuletzt leidet Gott selbst an Unrecht, Leid und Bosheit, die Menschen anderen Menschen antun. Für Jesus steht Mitgefühl und der Einsatz für Leidende auf der höchsten Stufe: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder oder für eine meiner geringsten Schwestern getan habt, das habt ihr für mich getan.“ (Matthäus 25,40)
Passionszeit ist eine Solidaritätszeit
So kann die Passionszeit eine Solidaritätszeit werden: In der Aufrichtigkeit, mit der wir uns an Jesu Leiden erinnern, öffnen wir uns allen Menschen, die in Not sind. Die Aktion Brot für die Welt ist für uns evangelische Christinnen und Christen ein zuverlässiger Weg zu den anderen.
Der Blick über den Tellerrand macht wieder frei
Ja, es fällt gerade schwer, schwerer als sonst, über den eigenen Tellerrand zu schauen. Die Ereignisse im eigenen Land beschäftigen uns sehr. Gerade darum soll uns die Passionszeit wieder den nötigen Abstand von uns selbst bringen und mehr Nähe zu den Menschen, mit denen wir zusammen diese Welt als Wohnort teilen. Im Gebet und mit Kollekten und Spenden solidarisieren wir uns mit allen nächsten Menschen, egal ob im Haus gegenüber oder auf dem anderen Kontinent.