Seit Beginn der Kolonialzeit bildet die Ausbeutung von Rohstoffen „in Übersee“ die Grundlage für technischen Fortschritt, Wirtschaftswachstum und Wohlstand der Kolonialmächte. Getrieben von der Gier nach Gold und Silber eroberten und plünderten Spanien und Portugal die beiden Amerikas. Ab dem 19. Jahrhundert geraten auch die mineralischen Rohstoffe Afrikas ins Visier der Europäer, wie beispielsweise Kupfer, das für die beginnende Elektrifizierung Europas gebraucht wird.
Heute sind die ehemaligen Kolonien zwar seit langem politisch unabhängig, de facto jedoch fest eingebunden in einen neokolonial geprägten Weltmarkt. Wie in einer Einbahnstraße fließen weiterhin Rohstoffe und Gewinne aus dem Globalen Süden nach Europa – und an die Großmächte, die im 20. und 21. Jahrhundert die Weltbühne betreten haben: Japan, die USA und China. Während den westlichen Mächten insbesondere Handelsabkommen und der EU neuerdings auch das Mega-Infrastrukturvorhaben ‚Global Gateway‘ dazu dienen, sich den Zugang zu Rohstoffen zu sichern, nutzt China seine „Neue Seidenstraße“, um Abhängigkeiten aufzubauen und an Bodenschätze zu gelangen. Ein Ende dieser strukturellen Ausbeutungsverhältnisse ist nicht in Sicht. Auch die Digitalisierung bringt keine Veränderung, da sie nur scheinbar immateriell daherkommt.
Mythos grüne Digitalisierung
„Durch technische Innovation schaffen wir ein effizienteres Wirtschaften, das weniger Rohstoffe und Materialien verbraucht“, so lautet die gängige These von Politik und Wirtschaft, wenn von der digitalen Transformation die Rede ist. Ein Blick auf die Verkaufszahlen der smarten Produkte bringt dieses Versprechen ins Wanken. Jährlich werden 241 Millionen PCs und mehr als 1,4 Milliarden Smartphones sowie Tablets verkauft. Der Rohstoffhunger dieser Endgeräte ist gewaltig. Touchscreens etwa benötigen Indium, Silizium und Zinn. Kupfer bildet die Basis für nahezu alle Elektro-Technologien. Etwa sieben Prozent der weltweiten Goldproduktion gehen an die Tech-Branche.
Der Wettkampf um die Marktführerschaft bei Zukunftstechnologien wird zum Wettrennen der Großmächte um den Zugang zu Metallen. Die EU nimmt eine Sonderrolle ein, da keine Region der Welt so rohstoffarm ist wie Europa. Besonders dramatisch wirkt sich dies bei den sogenannten kritischen Rohstoffen aus. Sie sind von besonders großer wirtschaftlicher Bedeutung, da sie unverzichtbar sind für die Digitalisierung sowie für die Bereiche erneuerbare Energien, Raumfahrt und Verteidigung.
Um Europas Rohstoffversorgung sicherzustellen, beschloss der EU-Rat 2024 eine neue Verordnung: den Critical Raw Materials Act (CRMA). Mit dem CRMA soll ein Netzwerk von strategischen Partnerschaften mit rohstoffreichen Drittstaaten aufgebaut werden, darunter zahlreichen ehemaligen Kolonien. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf Rohstoffen, die für die Herstellung wiederaufladbarer Lithium-Ionen-Akkus benötigt werden. Akkus, die in allen unseren digitalen Endgeräten stecken und die nicht mehr aus unserem Alltag wegzudenken sind. Einer ihrer wichtigsten Bestandteile ist Kobalt. Wer verstehen will, auf welchen Schultern der digitale Fortschritt ruht, muss etwas vom Alltag der Menschen erfahren, die in kongolesischen Minen nach Kobalt schürfen.
Wettlauf mit dem Tod
Über 74 Prozent der weltweiten Produktionsmenge an Kobalt stammen aus der Demokratischen Republik Kongo – dem Land Zentralafrikas, wo die Abbaubedingungen besonders brutal sind und in dem die Rebellengruppe M23 vor einigen Wochen eine Militäroffensive startete. Eine Offensive, die wesentlich auch auf die Rohstoffe im Land zielt. (Seit letztem Jahr kontrolliert M23 das größte Coltan-Abbaugebiet in der Region der Großen Seen, um das begehrte Metall illegal nach Ruanda zu exportieren). Im Kleinbergbau ist der Kobaltabbau besonders entbehrungsreich und gefährlich. Die Arbeiter*innen müssen dort teilweise bis zu 24 Stunden unter Tage durcharbeiten, ohne Schutzausrüstung in engen Stollen Mit jedem Meter, den sie sich von der Erdoberfläche entfernen, werden die Schächte enger. Die Tunnel sind so niedrig, dass die Bergleute nicht einmal richtig stehen können. Trotzdem müssen sie schnell arbeiten, sehr schnell sogar, denn andernfalls drohen sie zu ersticken. In 20 Metern Tiefe reicht der Sauerstoff gerade einmal für 20 Minuten. Die Gefahr eines Einsturzes begleitet sie täglich. Ihre Arbeit wird zum Wettlauf mit dem Tod. Und der Kongo ist kein Einzelfall: Für die überwiegende Mehrheit der Länder des Globalen Südens stellt sich der natürliche Reichtum an Bodenschätzen bis in die Gegenwart als ein „Ressourcenfluch“ dar. Auch der Abbau von Erz, Kupfer und Lithium hat verheerende Auswirkungen auf die Menschen und die Natur vor Ort. Insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent befördert die Rohstoffausbeutung durch ausländische Konzerne zudem Korruption, Kleptokratie und deformiert ganze Volkswirtschaften.
Partnerschaft auf Augenhöhe
Das Wettrennen um kritische Tech-Rohstoffe zwischen China, Europa, Russland und den USA wird sich in den kommenden Jahren weiter verschärfen. Solange die EU ihren neokolonialen Rohstoffkurs fortsetzt, wird es ihr nicht gelingen, ihre ohnehin schwierigen Beziehungen mit den Ländern des Globalen Südens zu verbessern. Bolivien und Indonesien legen bei Rohstofffragen ein neues Selbstbewusstsein an den Tag. Anstatt sich weiter mit der Rolle des Rohstofflieferanten zufrieden zu geben, fordern sie die Weiterverarbeitung im Land. Brüssel wäre gut beraten, das berechtigte Streben der Abbauländer nach wirtschaftlicher Teilhabe ernst zu nehmen und die Herstellung digitaler Produkte vor Ort zu fördern. Verbunden mit Investitionen in faire und umweltverträgliche Fördermethoden. Den viel beschworenen Partnerschaften auf Augenhöhe würden damit endlich Taten folgen. Mehr noch: Durch einen solchen Politikwechsel könnte die Digitalisierung zum echten Motor für Veränderungen werden – nicht nur für den grünen Wandel Europas, sondern auch für die Entwicklung des Globalen Südens.
Der Text enthält Auszüge des Buches „Digitaler Kolonialismus. Wie Tech-Konzerne und Großmächte sich die Welt aufteilen“.