Die AEMR hob die Menschenrechte auf die internationale Ebene und verbreitete sie weltweit. Zwar waren Listen individueller Rechte schon in früheren Dokumenten wie der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte enthalten. Diese Erklärungen waren aber jeweils fest an einen nationalstaatlichen Kontext gebunden. Heute ist es eine etablierte Praxis, dass sich Regierungen nicht nur vor ihren eigenen Bürger:innen, sondern auch international vor anderen Staaten und der Weltöffentlichkeit für die Verletzung fundamentaler Rechte verantworten müssen. Vor allem aber bedienen sich heute Menschen aus den unterschiedlichsten Gesellschaften, mit diversen kulturellen, sozialen und religiösen Hintergründen, der Sprache der Menschenrechte, um ihre grundlegenden Ansprüche zu formulieren und begangenes Unrecht anzuklagen. Die Menschenrechte sind, wie der amerikanische Philosoph Richard Rorty bemerkte, zu einem „Fakt der Welt“ geworden.
AEMR als Blaupause
Als bloße Deklaration hat die AEMR keinen rechtsverbindlichen Charakter. Sie diente aber als Blaupause für verbindliche Menschenrechtsverträge. Besonders bedeutsam sind die beiden 1976 in Kraft getretenen Verträge über bürgerlich-politische (Zivilpakt) und wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt), die vom Recht auf Leben bis zum Recht auf Nahrung erstmals grundlegende Ansprüche garantieren. Um diese internationalen Verträge entspannt sich heute ein umfangreiches Netz an Institutionen und Mechanismen, das die Einhaltung dieser Rechte überwacht und sicherstellen soll. Für viele Opfer von Menschenrechtsverletzungen ist heute der Menschenrechtsrat in Genf oder der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag die einzige Möglichkeit, die Gerechtigkeit zu erfahren, die ihnen von den Gerichten in ihrer Heimat verwehrt wird.
(K)ein Grund zu feiern?
Trotz dieses Siegeszuges, den die Menschenrechte vor 75 Jahren angetreten sind, ist dieser Geburtstag kein uneingeschränkter Grund zu feiern. Denn um die Menschenrechte ist es so schlecht bestellt wie lange nicht mehr.
Staaten wie China, Russland und Saudi-Arabien versuchen systematisch die Arbeit und Funktionsfähigkeit internationaler Menschenrechtsmechanismen zu behindern. Insbesondere versuchen sie den Menschenrechtsinstitutionen Gelder zu streichen. Dabei ist das gesamte Menschenrechtssystem schon lange chronisch unterfinanziert. Denn obwohl die Menschenrechte – neben dem Einsatz für Entwicklung und für Frieden – eine von drei in ihrer Charta festgeschriebenen Säulen der Vereinten Nationen sind, geben diese gerade 4 Prozent ihres Budgets hierfür aus.
Zivilgesellschaft unter Druck
Zweitens ist der Motor des Menschenrechtssystems, die globale Zivilgesellschaft, so stark unter Druck wie lange nicht mehr. Jedes Jahr steigt weltweit die Zahl der Morde an Menschenrechtsverteidiger:innen. 2022 haben unsere Partner von Front Line Defenders zum ersten Mal über 400 Morde an Aktivist:innen dokumentiert. 2019 waren es noch 304. Besonders alarmierend ist, dass immer mehr Staaten gezielte Repression gegen jene Menschenrechtsaktivist:innen einsetzen, die mit den VN-Mechanismen zusammenarbeiten, wie ein jährlich erscheinender Bericht des Hochkommissariats für Menschenrechte belegt. Denn ohne die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen, die Menschenrechtsaktivist:innen auf lokaler Ebene in allen Winkeln der Welt leisten, wären die Mechanismen des Menschenrechtssystems blind. Auch gehen entscheidende Impulse zur Weiterentwicklung der Menschenrechte fast immer von der globalen Zivilgesellschaft aus – zurzeit etwa in den Verhandlungen zu einem verbindlichen Vertrag, der erstmals die Verantwortung von Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden auf internationaler Ebene festschreiben würde.
Menschenrechte brauchen Glaubwürdigkeit
Der Einsatz für Menschenrechte wird zunehmend von doppelten Standards, geopolitischen Interessen und neuen Nationalismen überlagert. Trotz Bekenntnis zu einer wertegeleiten Außenpolitik ist auch Deutschland weit davon entfernt, die Menschenrechte zum Kompass des eigenen Handelns zu machen, wie es der Koalitionsvertrag der aktuellen Regierung vollmundig versprach.
Im weltweiten Rennen um Rohstoffe werden Umweltzerstörung und Menschenrechtsverletzungen in Folge von Bergbauprojekten etwa in Lateinamerika billigend in Kauf genommen. Die verschärfte geopolitische Rivalität mit China führt dazu, dass mit Staaten in Asien neue Allianzen angestrebt werden, in denen es zu systematischen Menschenrechtsverletzungen kommt. Aus strategischem Kalkül, diese Staaten nicht mit allzu harscher Kritik vor den Kopf stoßen zu wollen, werden Menschenrechtsprobleme oft unter den Teppich gekehrt.
Aber nirgendwo ist diese Abwendung von den Menschenrechten so deutlich zu beobachten wie im politischen Diskurs zu Flucht und Asyl. Weil sich demokratische Parteien praktisch überall in Europa von einer erstarkten Rechten vor sich hertreiben lassen, meinen sie, deren menschenrechtsverachtenden Positionen übernehmen zu müssen. Die Folge: Immer gefährlichere Fluchtrouten, Autokratien, die durch Rückführungsabkommen mit Drittländern gestärkt werden, und zunehmende rassistische Gewalt in Europa.
Den Kampf um die Menschenrechte annehmen
75 Jahre nach Verabschiedung der AEMR scheint die Lage trostlos. Selbst in Deutschland bringen Politiker:innen bereits den Ausstieg aus Menschenrechtsverträgen in Spiel, um weniger Flüchtende aufnehmen zu müssen. Aber es wäre verfrüht, die Idee der Menschenrechte jetzt aufzugeben. Der Siegeszug der Menschenrechte seit 1948 war nie eine lineare Fortschrittsgeschichte, sondern immer das Ergebnis gesellschaftlicher Konflikte. Fundamentale Rechte wurden und werden fast immer gegen die Interessen der Mächtigen durchgesetzt. Und errungen wurden diese Siege von den Opfern von Menschenrechtsverletzungen, von Dissident:innen und gesellschaftlichen Minderheiten. Ihnen zur Seite zu stehen ist unsere Aufgabe. Dann können wir auch in Zukunft die Errungenschaft der Allgemeinen Erklärung feiern.