Frau Monshausen, waren die Ziele, die sich die 193 Staaten mit ihrer Agenda 2030 im Jahr 2015 steckten, zu ambitioniert?
Nein, denn die SDGs müssen ambitioniert sein, wenn wir eine gerechtere, nachhaltigere und friedlichere Welt möchten. Leider aber ist die Bilanz zur Halbzeit ernüchternd: Wir haben nur einige wenige Ziele gut im Blick. Bei rund der Hälfte der 17 Ziele sind wir viel zu langsam – das Ziel etwa, Geschlechtergleichheit zu schaffen, werden wir beim jetzigen Tempo nicht in sieben, sondern erst in 300 Jahren schaffen. Schlimm ist, dass wir bei rund jedem dritten SDG sogar zurückgefallen sind oder stagnieren. Man muss auch klar zwischen Regionen unterscheiden: Bei der Armutsbekämpfung – dem Ziel Nummer 1 - liegt Europa weit vorne, der afrikanische Kontinent weit hinten. Genau umgekehrt ist es beim Ziel Nr. 12 zu nachhaltigen Produktions- und Konsummustern. Hier sind Nordamerika, Europa und Deutschland Schlusslichter.
Was sind die Ursachen für diese ernüchternde Halbzeitbilanz der Agenda 2030?
Es gibt mehrere: Zum einen fehlt es den 17 Zielen an Verbindlichkeit. Jedes Jahr können die Staaten beim UN High-level Political Forum (HLPF) – es prüft, ob die Ziele erreicht wurden – ihre Fortschrittsberichte vorlegen. Sie müssen es aber nicht! Und wer die Etappen-Ziele nicht erreicht hat, wird auch nicht sanktioniert. Das ist bei anderen UN-Institutionen anders: Dem Menschenrechtsrat etwa müssen die Staaten regelmäßig Bericht erstatten. Tun sie es nicht, werden sie öffentlich ermahnt und ihnen werden von anderen Staaten Verbesserungen empfohlen. Das ist bei den SDGs leider nicht der Fall. Eine weitere Ursache für die ernüchternde Halbzeitbilanz ist, dass die Politik vieler Staaten nicht kohärent ist. Auch Deutschland als Teil der EU verhandelt zum Beispiel noch immer Handelsabkommen, die die Entwicklung der Länder des Globalen Südens bei ihrer eigenen sozial-ökologischen Transformation bremsen und sogar ganz behindern – wie aktuell mit dem EU-Mercosur-Abkommen.
Welche Rolle spielen Coronakrise oder Ukrainekrieg, dass die Agenda 2030 wackelt?
Beide Krisen haben die Staaten in ihren Bemühungen, die 17 Nachhaltigkeitsziele zu erreichen, massiv zurückgeworfen. 2020 bis 2022 konnten wegen der Lockdowns viele Kinder und Jugendliche keine Schule besuchen. Viele Jobs sind weggebrochen. Nach dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine konnten einige Länder des Südens, die von Getreideimporten abhängig sind, die gestiegenen Preise nicht mehr bezahlen; dort hat der Hunger zugenommen. Allerdings, und das möchte ich betonen, war die Staatengemeinschaft auch schon 2019 – also vor Corona und vor dem Krieg gegen die Ukraine – vom Agenda-2030-Kurs weit abgekommen. Mehr noch: wäre die Staatengemeinschaft schon damals den 17 Zielen für eine nachhaltige Entwicklung näher gewesen und hätte sie schon damals eine gute Transformationspolitik verfolgt und umgesetzt, hätten die Menschen die beiden Krisen besser gemeistert. Zwei Beispiele nur: Kleinbauernfamilien, mit denen Brot für die Welt arbeitet und die ihre Felder agrarökologisch bewirtschaften und organisch düngen, leiden nicht darunter, dass sie die extrem gestiegenen Preise für Kunstdünger nicht mehr bezahlen können. Und auch Entwicklungsländer, die nicht nur auf internationalen Tourismus setzten, sondern schon vor 2020 ergänzend auf nationale Märkte gesetzt haben, konnten den Wegbruch der internationalen Reisenden besser ausgleichen.
Wer blockiert die Umsetzung der SDGs?
Da gibt es SDG-Bremser und Behinderer der UN-Nachhaltigkeitsziele auf allen Ebenen, darunter Regierungen, Konzerne, aber auch Konsumentinnen und Konsumenten – vor allem im reicheren Globalen Norden. Denn unser gesamtes Wirtschafts- und Finanzsystem verhindert bislang, dass wir die SDGs erreichen können. Das fossile System hat im letzten Jahrhundert enormen materiellen Wohlstand geschaffen. Doch der Preis, den die Menschheit dafür zahlt, ist – Stichwort Armuts- und Hungertreiber Klimakrise – extrem hoch. Die meisten planetaren Grenzen sind schon jetzt überschritten, und ökologische Kipppunkte rücken näher. Trotzdem bekommen Automobilwirtschaft, Schwerindustrie oder Flugindustrie allein in Deutschland jedes Jahr weiterhin über 65 Milliarden Euro an klimaschädlichen Subventionen – Mittel, die für den sozial-ökologischen Umbau der Wirtschaft fehlen, also auf diesem Weg auch die SDGs blockieren. Letztendlich sind auch die Entwicklungsbanken wie die Weltbank Bremser: Sie fördern zu häufig massive Infrastrukturprojekte wie etwa Staudämme oder Flughäfen, ohne darauf zu schauen, ob diese vor Ort auch tatsächlich zum Abbau von Armut, Ungleichheit und Klimaschutz beitragen. Im Gegenteil, bis heute sind sie immer noch nicht vollständig aus der Finanzierung von Öl, Kohle und Gas ausgestiegen. Es fehlen Programme, die Entwicklung wirtschaftlich und gleichzeitig auch ökologisch und sozial verstehen. Da ihr Geschäftsmodell zu großen Teilen auf der Vergabe von Krediten basiert, können ihre Finanzierungen auch zu einer Verschärfung der Verschuldungssituation von Ländern führen.
Wären die 17 UN-Ziele denn leichter zu erreichen, wenn die reichen Länder den armen Ländern die Schulden erlassen würden?
Es wäre ein wichtiger und wirkungsvoller Hebel, damit die Transformation gelingt. Fakt ist: Ein Drittel der Entwicklungsländer ist massiv überschuldet. Ihnen fehlen die Mittel, um Grunddienste wie Schulen und Krankenhäuser aufrechtzuerhalten oder Basisbedarfe ihrer Bevölkerung von Energie bis Wasser zu decken. Damit fehlen auch Mittel für Klimaanpassung. In der Regel fließt in diesen Ländern einer von fünf Dollar in den Schuldendienst und geht für die Tilgung drauf – Geld, dass dann beispielsweise für Bildung und das SDG-Ziel Nummer 4 fehlt! Dabei wissen wir: Bildung ist entscheidend, damit Menschen Armut und Ausbeutung entkommen.
Tut Deutschland genug dafür, dass die 17 UN-Nachhaltigkeitsziele erreicht werden?
Leider nicht. Was die Indikatoren zur Erreichung der SDGs betrifft, steht Deutschland im internationalen Vergleich mit Platz sechs zwar gut dar. Betrachtet man aber die Spill-Over Effekte, also die negativen Auswirkungen, die unser Verhalten in anderen Ländern auslöst, befindet sich Deutschland mit Platz 149 auf den hintersten Rängen! Gemessen wird das anhand von Indikatoren, etwa, wie viel CO2 oder Nitrat oder auch moderne Sklaverei in den nach Deutschland importierten Produkten steckt. Da ist ganz klar: so wie wir wirtschaften, produzieren und konsumieren, verursachen wir Schäden in anderen Ländern. Hier muss Deutschland viel mehr tun und mehr Verantwortung übernehmen – die Politik über den Abbau klimaschädigender Subventionen ebenso wie die Unternehmen, die nachhaltiger wirtschaften und sich endlich von fossilen Geschäftsmodellen verabschieden müssten. Und am Ende stehen natürlich auch Verbraucherinnen und Verbraucher über ihren Konsum in der Verantwortung.
Was können und müssten die Kirchen machen, damit die Agenda 2030 noch umgesetzt wird?
Die Evangelische Kirche in Deutschland, Brot für die Welt und Diakonie Deutschland waren sich auf ihrer Halbzeitbilanz-Konferenz im Juni 2023 einig: Kirche muss weiterhin laute Mittlerin, Mahnerin und Motor für die sozialökologische Transformation sein. Mittler, weil die sozial-ökologische Transformation nur gelingt, wenn wir alle Menschen mitnehmen auf diesem Weg und verständlich machen, dass die durch die Agenda 2030 erreichte Transformation ihnen allen zu Gute kommt. Hierfür brauchen wir eine positive Erzählung: was bekommen wir eigentlich, wenn wir diesen durchaus schmerzhaften Transformationsprozess durchlaufen? Hier sind die Kirchen erfahrene Träger der Botschaft von Hoffnung und Umkehr. Motor ist die Kirche, weil sie und viele kirchliche Initiativen heute schon zeigen, was Fairness und Solidarität im internationalen Handel und Handeln bedeutet und sie belegen, dass nachhaltiges und zukunftsfähiges Wirtschaften funktioniert. Und Mahnerin ist sie, weil sie auch das kann: Die Kirche hat sich beispielsweise erfolgreich für ein Lieferkettengesetz in Deutschland eingesetzt – und tut das jetzt auch für ein noch strengeres auf EU-Ebene.
Das Interview führte Martina Hahn.