In den letzten beiden Monaten hat mich ein Schweigen befallen. Aus menschenrechtlicher und entwicklungspolitischer Sicht hätte man sich zu vielem, was derzeit in der Migrationspolitik diskutiert wird, äußern können, ja müssen. Stattdessen: Sprachlosigkeit angesichts eines entfesselten Diskurses. Eines Diskurses, der jede Sachlichkeit und Menschlichkeit verloren und Migration zum einzig wahren Problem der Gegenwart erkoren hat. Und Lähmung angesichts einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft. Einer Spaltung, die Islamist*innen (und Rechtsextreme) mit Attentaten bezwecken, die mittlerweile aber auch von der Politik bis weit in die gesellschaftliche Mitte hinein betrieben wird.
Begonnen hat meine Sprachlosigkeit mit der Ermordung von drei Menschen durch einen jungen Islamisten in Solingen. Warum ersticht ein Schutzsuchender aus Syrien Besucher eines Volksfests? Was macht das mit den betroffenen Familien, mit der Stadt, mit dem Land? Und wie gehen wir mit diesem Attentat verantwortungsvoll um, angesichts eines immer mehr aus der Kontrolle geratenden Migrationsdiskurses?
Sicherheit für die einen – Kontrolle der anderen
Viel Zeit zur Reflexion blieb nicht. Anstatt sich ernsthaft der Frage zu widmen, wo und warum Integration scheitert und was zur Radikalisierung von jungen Menschen beiträgt, brach sich ein anderer Diskurs Bahn. Ein Diskurs, der die Sicherheit der einen unmittelbar mit der Kontrolle über die anderen verknüpft. Die einen, deren Sicherheit garantiert werden soll, sind die Menschen der weißen Mehrheitsbevölkerung. Die anderen, die kontrolliert werden, sind die Asylsuchenden, Migrant*innen, letztendlich alle nicht weiß-gelesene Menschen in Deutschland. Gewalttätige Pushbacks, Ausfliegen von Schutzsuchenden nach Ruanda, Albanien oder sonst wohin, Entzug der Staatsbürgerschaft für falsche Klicks – plötzlich scheint alles möglich, wenn damit dem Sicherheitsgefühl der Mehrheitsbevölkerung gedient ist.
Nicht berücksichtigt – oder billigend in Kauf genommen – wird dabei das schwindende Sicherheitsgefühl und die ganz akute Bedrohungslage, die diese Politik bei Menschen mit Migrationsgeschichte erzeugt. Immer mehr von ihnen fühlen sich in Deutschland nicht mehr erwünscht, bedroht – und erleben diese Bedrohung tagtäglich. Die Zahl rassistisch motivierter Straftaten ist in Deutschland im letzten Jahr um ein Drittel gestiegen. Die Spaltung der Gesellschaft, sie wird herbeigeschrieben – und schreitet zugleich voran.
Migrationspolitik im Ausnahmezustand
Das alles lähmt mich. Es macht mir Angst. Denn die aktuelle Migrationsdebatte agiert nicht nur ohne Rücksicht auf Verluste, sondern auch mit unlauteren Mitteln. Unlauter ist beispielsweise, dass viele Politiker einen angeblichen Kontrollverlust herbeibeschwören, gegen den sie dann in den Kampf ziehen – und das mit Maßnahmen, die Chaos stiften. Oder glaubt jemand ernsthaft, ein mögliches Ping-Pong von Schutzsuchenden zwischen der deutschen und österreichischen Grenze – oder die Verelendung von Schutzsuchenden infolge von Leistungsausschlüssen – würde die aufgeheizte Stimmung im Lande beruhigen? Solange die Zustände für viele Schutzsuchende in Polen oder Griechenland unhaltbar bleiben – wovon die Arbeit unserer Partnerorganisationen Zeugnis ablegt – werden sich Menschen auch von diesen verantwortungslosen Maßnahmen nicht abschrecken lassen. Doch von einer verantwortungsvollen Debatte haben wir uns in der Migrationspolitik derzeit leider ohnehin verabschiedet.
Beleg dafür ist auch, dass der Antimigrationsdiskurs immer stärker an den Grundfesten unserer Gesellschaft rüttelt. Das gilt insbesondere für den Rechtsstaat. „Müsste nicht endlich wieder das deutsche Volk entscheiden, wer nach Deutschland kommt?“, fragte Markus Söder vor kurzem bei einem Parteitag der CSU. „Nicht die Gerichte sollen entscheiden, wer hierbleiben darf, sondern die deutsche Politik.“ Der CSU-Chef ist nicht der einzige, der fordert, die Politik müsse sich vom Recht emanzipieren und angebliche Fehlentwicklungen in unserem Rechtssystem – gemeint ist damit ein vermeintlich übertriebener Flüchtlings- und Menschenrechtschutz – korrigieren. Vorschläge, den Notstand in Deutschland auszurufen, um sich über geltendes europäisches Asylrecht hinwegsetzen zu können, weisen in dieselbe Richtung. Eine Migrationspolitik im Ausnahmezustand stellt Grundsätze der Gewaltenteilung und des Rechts in Frage. Der große Aufschrei bleibt aus. Auch das macht mir Angst.
Gift für die internationalen Beziehungen
In Gefahr ist aber nicht nur der Rechtsstaat. In Gefahr sind auch zentrale Ziele der bisherigen Außen- und Entwicklungspolitik. Die Kooperation mit Drittstaaten bei der Migrationskontrolle und -abwehr ist in den letzten Jahren zu einem zentralen Pfeiler der EU-Asylpolitik geworden. Bisherige Werte, wie die Förderung von Demokratie und Menschenrechten, müssen dieser neuen Agenda weichen. So förderte Deutschland nach dem Arabischen Frühling in Tunesien den Aufbau demokratischer und zivilgesellschaftlicher Strukturen. Nun kooperiert Deutschland eng mit dem tunesischen Präsidenten Kais Saied, der ebendiese Strukturen wieder zerstört – und sich zugleich als Türsteher Europas inszeniert. Die designierte neue EU-Kommission hat angekündigt, in den kommenden Jahren alle ihr zu Verfügung stehenden Mittel – wie die Visa-, Handels- oder Entwicklungspolitik – dafür einzusetzen, um Abschiebungen nach und Migrationsabwehr in sogenannten Drittstaaten zu forcieren. Das vergiftet die internationalen Beziehungen – und fördert autoritäre Entwicklungen in den Ländern des Globalen Südens.
Raus aus dem Schweigen, rein in die Debatte
Das Versprechen, das „Problem Migration“ mit Härte lösen zu können, ist gefährlich und zielt ins Leere. Seit Jahrzehnten rüsten EU und USA ihre Grenzen auf. Menschen fliehen dennoch weiter dorthin – und bezahlen das immer wieder mit dem Tod. Anstatt Probleme zu lösen, ist der aktuelle, menschenverachtende Migrationsdiskurs selbst zu einem zentralen Problem geworden ist. Es ist an der Zeit dagegen zu halten. Zeit, für Demokratie, Menschenrechte und solidarische Beziehungen zu kämpfen – in Deutschland und weltweit.