Und Gerechtigkeit ?
Im Mai 2018 besuchten Mitglieder des Ausschusses für Entwicklungsdienst und humanitäre Hilfe (AEDHH) von Brot für die Welt in Begleitung von der damaligen Präsidentin Dr. h. c. Cornelia Füllkrug-Weitzel Mexiko und Ayotzinapa. Die Delegation konnte sich, „am Beispiel des emblematischen Falls der 43 verschwundenen Studenten aus Ayotzinapa/ Guerrero, aber auch anhand der Erfahrungsberichte Dutzender Angehöriger ein Bild der Verquickung staatlicher und krimineller Strukturen sowie der mangelnden Bereitschaft staatlicher Behörden verschaffen, Fälle von gewaltsamen Verschwindenlassen zügig und systematisch aufzuklären und Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen“ (aus dem Bericht der Delegation).
Fünf Jahre später ist die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit noch nicht abgeschlossen. Auch wenn der Staatssekretär für Menschenrechte, Bevölkerung und Migration, Alejandro Encinas am 19. August 2023 in einer Videobotschaft bekannt gab, dass im Fall von Ayotzinapa bislang 116 Personen, darunter 14 Militärangehörige verhaftet worden seien. Nach dem Weggang der GIEI steht zu befürchten, dass das Militär nun erst recht keine weiteren Informationen mehr herausgibt. Die Gefahr, dass der Fall irgendwie geschlossen wird, ist groß.
Abel Barrera, Leiter des Menschenrechtszentrums Tlachinollan in Guerrero, Partnerorganisation von Brot für die Welt, das die Familienangehörigen seit Anfang an begleitet hat, schrieb in einem Gastkommentar für die Tageszeitung la Jornada, „(…) Für uns war die GIEI (Die Gruppe internationaler Unabhängiger Experten der Interamerikanischen Menschenrechtskommission) unser Schutzschild, und in diesen neun Jahren hat sie einen wichtigen Platz in unseren Herzen eingenommen. (…) Wir werden nicht in unsere Häuser zurückkehren, wenn wir nicht vorher wissen, was mit unseren Kindern geschehen ist. Deshalb fordern wir, dass die Armee uns sagt, wohin sie sie gebracht hat. Wir wollen keine weiteren Lügen oder falschen Berichte von der Regierung. Die Empfehlungen der GIEI haben den Weg zur Wahrheit aufgezeigt.“
Carlos Beristain war in den letzten Jahrzehnten Mitglied verschiedener Kommissionen in Lateinamerika zur Dokumentation und Aufdeckung von (Staats-) Verbrechen, zuletzt Mitglied der kolumbianischen Wahrheitskommission. Im Juli 2023, nach der Vorstellung des sechsten und letzten Berichtes der GIEI äußerte er sich gegenüber Brot für die Welt wie folgt:
„Der (VI.) Bericht schildert, wie alle staatlichen Stellen auf verschiedenen Ebenen zusammen mit den Drogenhändlern an dem Angriff auf die Studenten der Escuela Normal Rural von Azotyinapa und der anschließenden Verschleierung der Tatsachen beteiligt waren. Eine Verschleierung, mit der so genannten „historischen Wahrheit“ durch die damalige Generalsstaatsanwaltschaft (Procuradoria General de la República - PGR).
Auch andere Institutionen wie die Marine waren daran beteiligt, z.B. durch Verhaftungen und Folterungen der Verhafteten, um diese angebliche Wahrheit durch „Geständnisse“ zu untermauern.
Der Bericht zeigt auch, dass es im Militär wichtige Informationen zur möglichen Suche nach den Verschwundenen gibt: Gespräche, die von der Geheimdienstzentrale aufgezeichnet wurden, in denen Mitglieder von Drogenhändlern und Mitglieder der staatlichen Institutionen über das mögliche Schicksal der Studenten am Tag der Ereignisse und am 3. und 4. Oktober sprechen.
Wir haben betont, dass diese Informationen zugänglich sein müssen, dass es noch weitere Dokumente gibt, von denen wir sogar wissen, wie sie nummeriert sind und wo sie sich befinden. Aber die Armee hat systematisch alles geleugnet, sogar das, was explizit in ihren eigenen Dokumenten steht.
Daraus folgt, dass der Fall natürlich nicht abgeschlossen werden kann, denn es gibt viele Dinge, die weiter untersucht werden müssen. Es ist notwendig, Zugang zu diesen Informationen zu erhalten, und der politische Wille, der über das hinausgeht, was bisher zum Ausdruck gebracht wurde, ist entscheidend.
Sehr wichtige Schritte wurden von den Institutionen, vom Präsidenten unternommen: Versuche, den Fall herunterzuspielen, wurden rückgängig gemacht, ebenso der Versuch, insbesondere durch die (das Verteidigungsministerium) SEDENA die Zahl der Verantwortlichen zu reduzieren. Die Wiederaufnahme der (ausgesetzten) Haftbefehle, war aufgrund des Drucks der Familien und der Unterstützung der GIEI möglich.
Was bleibt, ist die Empfehlungen im Bericht weiterzuverfolgen und Zugang zu den Informationen zu erlangen. Wir wissen nicht, wie es mit der (staatlichen Untersuchungskommission zur Aufklärung des Falles von Ayotzinapa) COVAJ weitergehen wird. Die Eltern wollen zunächst einen Dialog mit dem Präsidenten, damit er auf ihre Fragen antwortet, bevor weitere Schritte unternommen werden.
Verschleppung und Verschleierung
Die letzten Monate unserer Arbeit, von August 2022 bis Juli 2023, waren schwierig: Zum einen durch den Versuch (von Seiten der Generalstaatsanwaltschaft), die Arbeit der Sonder -Staatsanwaltschaft zu kontrollieren; zudem durch den Weggang des leitenden Staatsanwalts, Omar Gomez Trejo zusammen mit anderen Staatsanwälten, die mit dem Fall vertraut waren. Die Arbeitsaufnahme eines neuen Staatsanwalts und seines großen Teams ohne Kenntnis des Falles, den wir in dieser Zeit eingearbeitet und mit Informationen versorgt haben. Zum zweiten fiel uns die Aufgabe zu, den Fall Ayotzinapa vor Versuchen zu schützen, ihn herunterzuspielen. Wir haben auch darauf eingewirkt, dass die Anklagen, die im Jahr 2022 aufgrund der Intervention der Generalstaatsanwaltschaft fallen gelassen worden waren, wiederaufgenommen wurden, einschließlich derjenigen gegen 16 Angehörige des Militärs.
Der springende Punkt ist, dass der Präsident die Informationen hat, wir haben sie ihm zur Verfügung gestellt. Aber das Militärs weigert sich, mehr Informationen heraus zu geben, und die Antworten, die sie gegeben haben, sind die systematische Leugnung von allem: Zum Beispiel, dass das regionale Geheimdienstzentrum, wo wir Dokumente gefunden haben, nicht existiert, dass sie keine Transkriptionen gemacht haben, dass sie diese Informationen nicht analysiert haben, dass das regionale Geheimdienstzentrum vom (Militärgeheimdienst) CISEN, vom Innenministerium (SEGOB), oder sagen wir, von der Armee abhängig war.
All dies bedeutet, dass diese beiden Elemente, der Versuch, Informationen zu blockieren, und der Versuch, die Rechtsprechung einzuschränken, in dieser Zeit stattgefunden haben. Es ist uns in einem Fall gelungen, diesen Versuch teilweise rückgängig zu machen. Im anderen Fall haben wir es noch nicht geschafft, aber dies wird entscheidend sein, weitere Ermittlungen anzustrengen.
Den Fall weiterbegleiten tut Not
Die internationale Unterstützung ist ein entscheidender Faktor in diesem Fall. Dieser Fall hat das Gewissen der Welt berührt, der Menschen in vielen Ländern, der Menschenrechte, der Intellektuellen. Es ist jetzt an der Zeit, diese internationale Unterstützung wieder auf zu bauen, um die Frage der Öffnung der Archive, der offiziellen Informationen über den Fall in den Mittelpunkt zu stellen.
Und dass dies auf eine Art und Weise geschieht, die nicht den Diskurs nährt, den die Militärs versuchen uns auf zu drängen. In dem Sinne, dass dies ein Angriff auf die Institution des Militärs ist, etwas was sie bereits früher uns als GIEI vorgeworfen haben.
Wir haben in den SEDENA-Archiven Dokumente gefunden, die besagen, dass es 2016 eine Kampagne gegen die GIEI gab. Dahingehend, die GIEI zu denunzieren als Ausländer und Personen, die sich gegen die Institutionen wenden wollen. Dieser Diskurs kann heute nicht mehr aufgewärmt werden. Der Präsident ist sich der Situation bewusst; er selbst hat uns gesagt: "Bringt den Bericht heraus, den ihr habt", aber offensichtlich gibt es einen enormen internen Druck.
Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir bleiben würden, wenn die Voraussetzungen für unsere Arbeit gegeben sind. Wir sind nicht dafür verantwortlich, dass wir gehen, wir sind nicht dafür verantwortlich, dass Informationen und die für die Arbeit erforderlichen Voraussetzungen blockiert werden. Wenn systematisch Informationen verweigert werden, von denen wir wissen, dass es sie gibt und die uns teilweise vorliegen, und wenn uns nicht alle diese Beweise zur Verfügung gestellt werden, kann die GIEI nicht weiterarbeiten. Dann fehlen ihr die Grundlagen mit denen sie weiter auf eine Untersuchung drängen und den Eltern eine Antwort auf die Frage geben kann, was mit ihren Kindern geschehen ist.
Wir haben das Gefühl, dass wir das Maximum an Arbeit geleistet haben, und zwar über das hinaus, was getan werden konnte. Und das bei viel Gegenwind von verschiedenen Seiten. Wir sind frustriert, weil wir sehr viel erreicht haben, aber wir berühren bestimmte Wahrheiten mit unseren Fingerspitzen, aber die Informationen werden nicht bereitgestellt, um sie diese Wahrheiten in Gänze zu erfassen und zu analysieren und all die Dinge zu erklären, die noch fehlen.
Wir haben einen langen Weg zurückgelegt, aber vieles fehlt noch.“