Ab 2014: Die von der mexikanischen Regierung und der Interamerikanischen Menschenrechtskommission CIDH eingesetzte Sonderuntersuchungskommission, „Grupo Internacional de Expertos Independientes“ (GIEI) beginnt ihre Ermittlungen. Besetzt mit ausgewiesenen Persönlichkeiten der Menschenrechtsarbeit, darunter die ehemaligen Generalstaatsanwältinnen von Guatemala, Claudia Paz y Paz, von Kolumbien, Angela Buitrago (heute Justizministerin Kolumbiens) oder des Psychologen und Mitarbeiters in diversen lateinamerikanischen Wahrheitskommissionen zur Aufklärung von Menschenrechtsverbrechen, Carlos Beristain.
Die GIEI widerlegt die Version der damaligen Regierung von Präsident Pena Nieto, wonach die 43 Student*innen von Mitgliedern des organisierten Verbrechens auf einer Müllhalde verbrannt wurden. Schlagzeilen machte damals der Generalstaatsanwalt, der in einer Pressekonferenz auf Nachfragen zu dem Fall mit dem Satz reagierte: „Ya me cansé“ – das ermüdet mich.
Deutsche Waffen
2015: Bei einem Besuch in Ayotzinapa entschuldigt sich der damalige Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe, Christoph Strässer dafür, dass bei dem Verbrechen deutsche Waffen zum Einsatz kamen. Journalist*innen und NROs hatten den Einsatz von illegal nach Mexiko exportierten G36-Gewehren der schwäbischen Waffenschmiede Heckler und Koch aufgedeckt.
Mai 2018: Mitglieder des deutschen Ausschusses für Entwicklungsdienst und humanitäre Hilfe (AEDHH) von Brot für die Welt in Begleitung von der damaligen Präsidentin Dr. h. c. Cornelia Füllkrug-Weitzel besuchen Mexiko und Ayotzinapa. Die Delegation kann sich, „am Beispiel des emblematischen Falls der 43 verschwundenen Student*innen aus Ayotzinapa/ Guerrero, aber auch anhand der Erfahrungsberichte Dutzender Angehöriger ein Bild der Verquickung staatlicher und krimineller Strukturen sowie der mangelnden Bereitschaft staatlicher Behörden verschaffen, Fälle von gewaltsamen Verschwindenlassen zügig und systematisch aufzuklären und Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen“ (aus dem Bericht der Delegation).
2018: Der neugewählte Präsident Andrés Manuel Lopez Obrador kündigt an, die restlose Aufklärung des Falles zu betreiben. Im Jahr 2019 wird die GIEI erneut ins Land gebeten und die Aufklärung des Falles zur Chefsache gemacht.
Die Ermittlungen der GIEI erbringen unzählige Hinweise und dokumentieren die Manipulation der Müllhalde, auf der die Student*innen angeblich verbrannt wurden. Sie liefern Hinweise auf die Verstrickung des Militärs. Es gelingt der GIEI nicht, das Militär zur Herausgabe von weiteren identifizierten Akten zu bewegen.
Staatliche Ermittlungen
2022: Eine von Präsident López Obrador eingesetzte staatliche Untersuchungskommission, die „Comisión para la Verdad y el Acceso a la Justicia del Caso Ayotzinapa (Covaj)“ unter Vorsitz des Staatsekretärs für Menschenrechte, Bevölkerung und Migration, Alejandro Encinas, überrascht die Öffentlichkeit mit einem eigenen Bericht. Danach bekennt die mexikanische Regierung offiziell, dass es sich im Fall der 43 um ein Staatsverbrechen unter Beteiligung diverser Sicherheitskräfte gehandelt hat. Staatssekretär Encinas entschuldigt sich bei den Angehörigen der Student*innen. Allerdings sind viele der Ergebnisse nicht neu, sondern bereits im Bericht der GIEI enthalten. Der Bericht der COVAJ ist weder mit der GIEI abgestimmt noch wird er vor Veröffentlichung den Familiengehörigen vorgestellt.
2019: Die eigens eingesetzte Sonderstaatsanwaltschaft (UEILCA) zum Fall Ayotzinapa kann aufgrund der GIEI-Untersuchungsergebnisse und eigener Ermittlungen 83 Haftbefehle erwirken. Allerdings sieht sie sich mit dem weiterhin existierenden Geflecht der Komplizenschaft und Vertuschung der Vorgänge konfrontiert.
2023: Die Generalstaatsanwaltschaft Mexikos interveniert und hebt zunächst 21 Haftbefehle auf, darunter gegen 16 Militärangehörige. Diese willkürliche Einmischung führt zum Rücktritt des leitenden Staatsanwaltes Omar Gómez Trejo und einem Großteil des Ermittlungsteams. Omar Trejo begibt sich aus Sorge um seine Sicherheit kurze Zeit später in die USA. Auch Staatssekretär Encinas tritt von seinem Posten zurück.
Der letzte Bericht der GIEI
2023: Die verbliebenen Mitglieder der GIEI, Carlos Beristain und Angela Buitrago, arbeiten weiter daran, Zugang zu Informationen und Unterlagen des Militärs zu erhalten. Trotz Aufforderung des Präsidenten López Obrador, der auch Oberkommandierender der Streitkräfte ist, kommen sie den mehrfachen Anfragen auf vollständigen Zugang zu Dokumenten nicht nach. Das Militär leugnet, in den Fall der 43 involviert gewesen zu sein. Falschaussagen, Vertuschungen und Manipulationen von Informationen durch die Sicherheitskräfte gehen weiter. Beristain und Buitrago verlassen Mexiko nach der Vorstellung des letzten Berichtes der GIEI.
Präsident Lopez Obrador verteidigt das Militär mit dem Hinweis auf Fehlverhalten Einzelner. Zunehmend greift Lopez Obrador in seinen Morgenansprachen Nichtregierungsorganisation an. Seine Attacken richten sich gegen jene, die überhaupt erst dazu beigetragen haben, das Verbrechen in der Öffentlichkeit bewusst zu halten und weitere Aufklärung zu fordern.
2024: Lopez Obrador greift in seiner Stellungnahme an die Familienangehörigen der 43 Student*innen u.a. die Menschenrechtsorganisation Centro Pro DH an. Sie wollten „das Ansehen des mexikanischen Militärs beschmutzen“.
Die Familienangehörigen der verschleppten Student*innen treffen sich am 27. August 2024 ein letztes Mal mit dem scheidenden Präsidenten. Danach erklären sie, keine Grundlage für weitere Treffen mehr zu sehen. Joaquin García, ein Familienangehöriger, drückt es so aus: „Mit AMLO (Andrés Manuel Lopez Obrador – die Red.) gab es eine große Hoffnung, sehr schön. Wir fühlten, dass wir die Wahrheit erfahren würden, weil es ein Versprechen war, ein Regierungsdekret, das er unterzeichnet hatte. Aber leider war es nicht so. Es hat weder Wahrheit noch Gerechtigkeit gegeben. Wir werden weiterkämpfen. Es ist ein bitterer Nachgeschmack, aber wir werden weitermachen.”
Fünf Tage vor dem Ende seiner Amtszeit veröffentlicht Lopez Obrador einen neuen Brief an die Familienangehörigen in dem er erneut die GIEI, die CIDH und Anwälte der Opfer kritisiert und betont, die neue Regierung würde den Fall weiterverfolgen.
Die neue Präsidentin Claudia Sheinbaum sichert zu, den Fall weiter zu bearbeiten.
Aber zehn Jahre nach dem Verbrechen scheint die Hoffnung immer mehr zu schwinden, dass die Familienangehörigen wenigstens Aufklärung darüber erhalten, was mit ihren Söhnen geschehen ist und wo deren Reste geblieben sind. Nach wie vor sind sie es, die sich gegen das Vergessen stemmen.