Dr. Azizou Chehou ist eigentlich ein Mensch der bedächtigen Worte. Doch wenn er darauf zu sprechen kommt, wie die EU ihre Migrationsabwehr in den Niger vorverlagert, wird er schon mal lauter. Unter dem Schlagwort Externalisierung versucht die EU seit der „Flüchtlingskrise“ von 2015 mit großem Eifer, Drittstaaten zu Partnern einer restriktiven Migrationsagenda zu machen. Mit Geld, Kooperationen im Sicherheitsbereich – und mit viel Druck. Ergebnis dieser Bemühungen im Niger war u.a. die Verabschiedung des Gesetzes 2015-36. Dieses Gesetz hat vor acht Jahren im Niger Migration Richtung Norden weitestgehend illegalisiert, jegliche Form der Unterstützung für diese Migrant*innen kriminalisiert. Konzipiert und implementiert wurde das Gesetz mit tatkräftiger Unterstützung der EU. Die katastrophalen Folgen des Gesetzes für Migrant*innen und die lokale Bevölkerung sind in der Provinz Agadez besonders stark zu spüren, in der Azizou Chehou lebt. Detailiert beschrieben sind diese Folgen in einer aktuellen Publikation von Brot für die Welt und misereor zu der Migrationspartnerschaft mit dem Niger, der auch dieses Interview entnommen ist.
Azizou Chehou, wie ist das Leben in Agadez heute, acht Jahre nach der Einführung des Gesetzes 2015-36?
Das Leben ist noch schwieriger geworden. Früher machten Dienstleistungen für Migrant*innen einen sehr großen Teil der lokalen Wirtschaft aus. Viele Menschen haben als Busfahrer oder Hostelbetreiber ihren Lebensunterhalt bestritten. Diese Dienstleistungen werden aber mit dem Gesetz 2015-36 unter Strafe gestellt. Andere Jobs, wie Essenzubereitung für Durchreisende, sind weggebrochen. Viele Menschen in Agadez haben kein Einkommen mehr. Infolgedessen sind Straftaten wie Überfälle, Entführungen und Erpressungen zu einem großen Problem geworden. Die Sicherheit der Menschen ist zunehmend in Gefahr, insbesondere die von Frauen und Menschen in ländlichen Gebieten.
In den letzten Jahren hat sich die Zahl der Einwohner*innen in Agadez verdoppelt. Immer mehr Migrant*innen sitzen in Agadez fest, weil sie nicht weiterkommen, von Algerien oder Libyen brutal zurückgedrängt werden oder an Evakuierungs- oder Neuansiedlungsprogrammen teilnehmen, die nicht richtig funktionieren.
Wir erhalten viele Anrufe von Migrant*innen, die nicht wissen, wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten sollen, und die um Nahrung, Unterkunft oder finanzielle Unterstützung bitten. Die Spannungen zwischen den Menschen, die hier leben, und den Migrant*innen nehmen zu, da es an allem fehlt.
Wie sieht es mit EU-finanzierten Projekten aus, die alternative Einkommensquellen fördern?
In Agadez gibt es diese Projekte nicht. Es kann sein, dass in ländlichen Gebieten Schulen gebaut wurden, aber das können wir nicht überprüfen, da es zu gefährlich ist, dort hinzureisen. Die Projekte der EU zielen darauf ab, die Einstellung der Menschen gegenüber migrationsbedingten Geschäften zu ändern, aber das funktioniert überhaupt nicht.
Das Gesetz 2015-36 wird derzeit überarbeitet. Was erwartest du von der Überarbeitung?
Bislang war es der Zivilgesellschaft in Agadez nicht möglich, sich an der Überarbeitung zu beteiligen. Agadez ist weit von der Hauptstadt Niamey entfernt. Dort werden Entscheidungen ohne unsere Zustimmung getroffen, aber wir tragen die Konsequenzen. Indem die Regierung eigene zivilgesellschaftliche Akteur*innen schafft, täuscht sie vor, dass die Zivilgesellschaft in politische Entscheidungen eingebunden wird.
Wenn wir die Möglichkeit hätten, unsere Meinung zu äußern, würden wir fordern, dass die Anzahl der Checkpoints reduziert wird. Außerdem brauchen wir Polizisten, die die Menschenrechte achten und für unsere Sicherheit sorgen, anstatt Menschen zu erpressen. Wir appellieren darüber hinaus an unsere Regierung, sichere Bedingungen für Migrant*innen auf der Durchreise in den Norden zu schaffen, anstatt dazu beizutragen, dass die Flucht immer gefährlicher wird.
Wir sind außerdem der Meinung, dass das Gesetz 2015-36 gegen das Freizügigkeitsprotokoll der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) verstößt. Deshalb haben wir beim ECOWAS-Gerichtshof eine Klage gegen den Niger eingereicht. Der Gerichtshof sollte alle Artikel des Gesetzes für ungültig erklären, die die Freizügigkeit in der Region behindern.
Mit welchen Problemen ist Niger aktuell konfrontiert?
Einer hohen Arbeitslosigkeit und dem Mangel an guter Regierungsführung, Bildung und Sicherheit. Leider unterstützt uns die EU nicht wirklich bei der Bewältigung dieser Probleme, sondern spielt stattdessen ihr eigenes Machtspiel. Viele Menschen im Niger empfinden die Interventionen der EU und ihre militärische Präsenz als eine Art Rekolonisierung.
Sollte es besser keine Kooperation mit der EU mehr geben?
Es sollte Kooperation stattfinden. Eine echte Kooperation muss jedoch auf Augenhöhe erfolgen. Die EU sollte nicht nur ihre eigene Agenda im Niger umsetzen. Sie sollte besser uns, der Zivilgesellschaft, zuhören. Wir fordern demokratische Teilhabe, Freizügigkeit für unsere Bürger*innen und sichere Reisebedingungen für Menschen in Not. Der Niger darf mit der enormen Last, die die vielen Binnenvertriebenen, Geflüchteten aus anderen Ländern und gestrandeten Migrant*innen im Land darstellen, nicht allein gelassen werden.
Alarmphone Sahara (APS) ist ein Kooperationsprojekt von Initiativen und Aktivist*innnen aus Afrika und Europa und seit 2019 Partner von Brot für die Welt. APS leistet Nothilfe und unterstützt Menschen entlang der Flucht- und Migrationsroute durch die Sahara. Außerdem dokumentiert die Organisation Menschenrechtsverstöße wie die illegalen Abschiebungen Algeriens mitten in der Wüste an der nigrischen Grenze.