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"Die EU setzt falsche Prioritäten"

Rund 25 Millionen Menschen sind derzeit am Horn von Afrika auf der Flucht. Legale Migration findet vor allem in die Golf-Staaten statt - mit einem hohen Maß an Ausbeutung, wie der äthiopische Migrationsexperte Girmachew Adugna im Interview schildert. Er kritisiert: Die EU werde den komplexen Flucht- und Migrationsdynamiken der Region nicht gerecht.

Von Dr. Andreas Grünewald am
Girmachew Adugna

Girmachew Adugna

Das Horn von Afrika ist derzeit eine der Weltregionen mit den meisten Flüchtenden. Was sind die Ursachen dafür?

Gewalt ist der zentrale Fluchttreiber. Im Sudan tobt seit eineinhalb Jahren ein brutaler Bürgerkrieg, vor dem bisher knapp zwölf Millionen Menschen die Flucht ergriffen haben. In Äthiopien gab es den Krieg in Tigray, nun wird in Amhara, Oromia und anderen Regionen gekämpft. Da die geopolitische Lage am ganzen Horn sehr angespannt ist, erwarte ich, dass die Zahl der Vertriebenen noch weiter ansteigen wird. Dürre und Überschwemmungen sind weitere wichtige Fluchtursachen, sie machen rund 20 Prozent des Fluchtgeschehens aus. Die Naturkatastrophen hängen oft eng mit dem Klimawandel zusammen. Viele Menschen fliehen daraufhin auch in urbane Zentren, was für die Städte eine große Belastung ist.

Die EU befürchtet mehr Fluchtbewegungen aus der Region Richtung Europa - und kooperiert unter anderem mit der ägyptischen Regierung, um dies zu verhindern. Welche Rolle spielt die sogenannte Nordroute im regionalen Migrationsgeschehen?

Kein Land am Horn von Afrika gehört zu den Top-10-Herkunftsländer,, wenn man die Überfahrten über das Mittelmeer betrachtet. Es gibt wirklich sehr wenige Menschen aus unserer Region, die versuchen, durch die Wüste und das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Das ist sehr teuer, sehr gefährlich und ein seht weiter Weg. Trotzdem ist es die Route, die medial am meisten Aufmerksamkeit erhält – und für die am meisten Migrationsprogramme der EU aufgesetzt werden.

Tatsächlich findet der Großteil der Fluchtbewegungen innerhalb des Horns von Afrika statt. Die wichtigsten Aufnahmeländer befinden sich in der Region selbst: Uganda, Äthiopien, Sudan und Kenia. Für die Arbeitsmigration wiederum ist insbesondere die Ostroute in die Golfstaaten von Bedeutung sowie - in zweiter Linie - die Südroute Richtung Südafrika. Der europäische Fokus auf die Nordroute verzerrt den Blick auf das reale Migrationsgeschehen – und führt zu falschen Prioritäten.

Welche falschen Prioritäten setzt die EU?

Vor allem für die Binnenvertriebenen gibt es viel zu wenig internationale Unterstützung. Dabei machen sie die große Mehrheit der Vertriebenen aus. Im Sudan sind es über acht Millionen, in Äthiopien fünf Millionen Menschen. Die Regierungen in der Region können diese enormen Zahlen nicht allein stemmen. Aber auch für die Flüchtenden, die Grenzen überschreiten, wird es immer schwieriger. In Äthiopien hat die Zahl der Geflüchteten infolge des Sudankriegs eine Million überschritten. Zugleich gehen die Finanzmittel, die das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR hat, zurück. In Äthiopien leben die meisten Vertriebenen zudem in sehr abgelegenen Lagern. Es ist sehr schwierig, dort ihre Grundversorgung sicherzustellen: Nahrung, Gesundheit, Schulbildung für die Kinder. Egal ob Flüchtlinge oder Binnenvertriebene: Sie sehen für sich unter diesen Bedingungen keine Zukunft.

Was könnte die EU tun, um die Vertriebenen in der Region besser zu unterstützen?

Aus meiner Sicht engagiert sich die EU sehr wenig im Bereich der Friedensarbeit und Konfliktlösung. Bei der Beendigung des Tigray-Konflikts war vor allem die USA aktiv. Die humanitäre Hilfe, die in die Region kommt, ist wichtig, ändert aber nichts an den Fluchtursachen. Das gilt auch für die klimabedinge Vertreibung. Hier muss die internationale Klimapolitik gestärkt werden. Das reduziert Naturkatastrophen, aber auch Konflikte. Zudem sollte sich die EU mehr dafür engagieren, dass Menschen ökonomische Möglichkeiten vor Ort vorfinden.

Ökonomische Möglichkeiten finden viele Menschen der Region in den Golfstaaten. Was zeichnet diese Migration aus?

Äthiopien hat bisher mit fünf Golfstaaten Abkommen zur Arbeitsmigration abgeschlossen. Besonders wichtiges Zielland ist Saudi-Arabien. Die äthiopische Regierung hat das Ziel ausgegeben, im kommenden Jahr 1,2 Millionen Arbeitsmigrant*innen in die Golfstaaten zu schicken. Dabei handelt es sich zu rund 95 Prozent um Frauen, die als Hausbedienstete arbeiten. Doch auch wenn sie legal migrieren, arbeiten sie meist unter sehr schlechten Bedingungen. Der Arbeitsdruck ist enorm, Schlafentzug an der Tagesordnung, die Bezahlung sehr schlecht. Dazu kommen unterschiedliche Formen physischer Gewalt wie sexuelle Übergriffe; oft werden Bedienstete im Haushalt eingesperrt. Es gibt bisher keine wirksamen Schutzmechanismen dagegen.

Viele Frauen machen sich aufgrund der bürokratischen Hürden der legalen Migration zudem auch auf eigene Faust auf den Weg. Dasselbe gilt für äthiopische Männer, für die legale Migrationskanäle fast gänzlich fehlen. Sie nehmen irreguläre Routen über den Jemen, um dann im Baugewerbe, in der Landwirtschaft oder als Fahrer in den Golfstaaten zu arbeiten. Das Leid entlang dieser Routen ist enorm. Die Menschen werden erschossen, eingesperrt oder entführt, um Geld von ihren Familien zu erpressen. Viele sterben oder sie gehen einfach verloren. Dazu kommen die vielen willkürlichen Verhaftungen und Abschiebungen aus Saudi-Arabien. In den letzten zehn Jahren sind rund 900.000 Äthioper*innen aus Saudi-Arabien abgeschoben worden. Das sind riesige Probleme, die von der Politik weitgehend ignoriert werden. Geringqualifizierte Arbeitskräfte haben keine Lobby, ihr Leiden erhält kaum Beachtung – obwohl sie ihre Familien in der Heimat stark unterstützen.

Du hast Uganda als eines der Länder genannt, die in der Region die meisten Schutzsuchenden aufnehmen. EU-Mitgliedsstaaten wie die Niederlande streben derzeit an, Uganda als Partner für die Auslagerung von Asylverfahren aus Europa zu gewinnen. Was hältst du davon?

Europa würdigt viel zu wenig, wie viele Schutzsuchende Länder wie Uganda, Kenia oder Äthiopien bereits heute aufnehmen. Und wie teuer das für diese Länder ist. Wir reden von Millionen Menschen, die oft nicht nur ein oder zwei Jahre, sondern über Jahrzehnte in den Gastländern bleiben und dort Familien gründen. Uganda hatte bisher einen relativ großzügigen Umgang gegenüber Geflüchteten. Viele bekommen Land, dürfen arbeiten. Jetzt zu versuchen, noch weitere Schutzsuchende aus Europa nach Uganda zu schicken, bedeutet, das Land noch weiter zu belasten. Deutschland und andere EU-Staaten unterstützen die afrikanischen Ländern schon heute nicht in dem Ausmaß bei lokalen Integrationsmaßnahmen, wie es internationale Vereinbarungen vorsehen. Unter diesen Bedingungen nun noch weitere Schutzsuchende in Länder wie Uganda zu schicken, ist für mich einfach nicht fair.

Das Interview ist im Rahmen einer Dienstreise nach Addis Abeba entstanden, deren Eindücke ich in dem Blog Äthiopien: Entwicklung und Vertreibung verarbeitet habe. Girmachew Adugna (PhD) ist einer der angesehensten äthiopischen Migrationsexperten. Er ist derzeit Mitglied des Beirats des Forced Displacement and Migration Studies Centers der Universität Addis Abeba. Er hat zahlreiche Artikel in internationalen Fachzeitschriften zu den Themen Migration, Rücküberweisungen, Diaspora-Engagement und transnationale Familienbande veröffentlicht und für unterschiedliche nationale und internationale Organisationen gearbeitet.

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