Kommentar

Echte Realpolitik: in Gerechtigkeit investieren

Der Globale Süden ist zunehmend enttäuscht von westlicher Politik. Von rhetorischer Solidarität und faktischer Selbstbezogenheit. Von Rohstoffausbeutung, Impfstoffegoismus und gekungelten Migrationsdeals. Wertebasierte Außenpolitik ist nicht das Problem, sondern das Gebot der Stunde.

Ein Kommentar von Silke Pfeiffer und Jörn Grävingholt

Von Dr. Jörn Grävingholt am
Bundesstraße BR 163 zwischen Lucas do Rio Verde und Sinop. Der Regenwald musste in den letzten Jahren Soja Monokulturen, Straßen und Viehweiden weichen, Mato Grosso, Brasilien

„Unsere Sicherheit ist verbunden mit der Sicherheit und Stabilität anderer Weltregionen“, schrieb die Bundesregierung diesen Sommer in ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie. Deshalb werde sie „ihr Engagement zur Bekämpfung von Armut und Hunger, sozialer Ungleichheit und der Klimakrise verstärken“ – und versprach höhere Investitionen unter anderem in „eine engagierte humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit“. Wenige Tage später wurden ein Haushaltsentwurf für 2024 und eine mittelfristige Finanzplanung bekannt, die das radikale Gegenteil bedeuten: 1,6 Milliarden Euro Kürzung gegenüber 2023 bei Entwicklungszusammenarbeit, ziviler Krisenprävention und humanitärer Hilfe – und noch größere Einschnitte in den Folgejahren. Die Strategie war das Ergebnis eines einjährigen Konsultationsprozesses mit nationalen und internationalen Fachleuten aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Der Haushaltsentwurf erklärt das für null und nichtig.

Debatte um „wertegeleitete Außenpolitik“

Parallel zu dieser Kehrtwende erleben wir eine erstaunliche mediale Begleitmusik. Wertegeleitete Außenpolitik ist demnach der Grund allen Übels. In einem prominenten Medienkommentar heißt es, die mangelnde Bereitschaft der tunesischen Regierung, Migrant:innen davon abzuhalten, auf Boote in Richtung Europa zu steigen, solle uns lehren, weniger Demokratie und Menschenrechte in die Welt tragen zu wollen. Die Entwicklungen in Mali, Burkina Faso, Guinea und Gabun, schreibt ein anderer, seien teilweise eine Folge der als übergriffig wahrgenommenen wertebasierten Außenpolitik.

Nun waren weder die sogenannten Migrationspartnerschaften mit Ländern wie Tunesien noch etwa das Bundeswehrengagement in Mali das Ergebnis einer menschenrechtsbasierten Außenpolitik. Vielmehr haben Verteidiger:innen von Menschenrechten und Demokratie seit Jahren davor gewarnt, sich an fragwürdige Regierungen zu binden, um kurzfristige Vorteile, etwa zur Migrationsabwehr oder bei der Rohstoffversorgung, zu erlangen. Nichts verdeutlicht die damit verbundene Gefahr klarer als das Beispiel Russlands, mit dem über Jahrzehnte hinweg politisch begleitet und allen Warnungen zum Trotz blendende Geschäfte gemacht wurden, während das Regime zivilgesellschaftliches Engagement und kritische Berichterstattung systematisch immer mehr einschränkte. Es ist an der Zeit, die Menschenrechte aus der Moralecke herauszuholen und klar im Bereich der Interessenpolitik zu verorten. 

Enttäuschung über Egoismus und unerfüllte Zusagen

Multiple Krisen und globale Machtverschiebungen erfordern einen umfassenden Blick auf Fragen der internationalen Kooperation. Wer hier Interessen nur als kurzfristigen Nutzen definiert, verkennt, dass die Abkehr vieler Staaten des Globalen Südens vom sogenannten Westen auch mit Glaubwürdigkeitsverlusten zu tun hat. Mit der Wahrnehmung, dass der Westen vor allem seine eigenen Interessen im Blick hat und weniger die Lösung globaler Probleme oder gar die internationale Solidarität. Bei der zivilgesellschaftlichen „Global People’s Assembly“ am Rande des UN-Gipfels in New York Mitte September zeigten sich Meinungsführende und Aktivist:innen aus dem Globalen Süden, die ihren eigenen Regierungen sehr kritisch gegenüberstehen, offen enttäuscht vom Auseinanderklaffen zwischen performativer Solidarität und faktischer Selbstbezogenheit westlicher Politik: Impfstoffegoismus in der Covid-Pandemie; unerfüllte finanzielle Zusagen für die globalen Nachhaltigkeitsziele; das Hochfahren der Kohleimporte aus Kolumbien, dem Land, in dem weltweit die meisten Menschenrechtsverteidiger:innen ermordet werden – viele im Zusammenhang mit Protest gegen Extraktivismus; immer neue Verschuldungsprogramme anstelle signifikanter Kompensationen, etwa für erlittene Schäden und Verluste durch den Klimawandel oder durch Rohstoffausbeutung. Nicht die wertebasierte Außenpolitik ist das Problem, sondern ihr Fehlen.

Investitionen in Glaubwürdigkeit und globale Gerechtigkeit

Um dieser Wahrnehmung mehr Glaubwürdigkeit entgegenzusetzen, braucht es auch die finanziellen Mittel, die Deutschland und Europa für globale Gerechtigkeit, internationale Solidarität und fairere Wirtschaftsbeziehungen sowie zur Bekämpfung von Krisen und humanitären Katastrophen aufwenden. Die Bundesregierung sendet ein fatales Signal, wenn sie dem Bundestag vorschlägt, Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe in den kommenden Jahren um viele Milliarden Euro zu kürzen. Investitionen in die Wiederbelebung und Gestaltung der internationalen Ordnung als einer friedlichen und im Kern kooperativen sind keine selbstlosen Luxusausgaben. Im Gegenteil: Ähnlich dem Erfolgsmodell des modernen Sozialstaats, der vielen Ländern Entwicklung in politischer und gesellschaftlicher Stabilität ermöglicht hat, schaffen substanzielle Solidarbeiträge im internationalen Raum erst die Voraussetzungen dafür, dass die von starken Fliehkräften bedrohte globalisierte Welt die vor ihr liegenden existenziellen Menschheitsfragen lösen kann.  

Beim EU-Lateinamerika-Gipfel im Juli dieses Jahres gab der brasilianische Präsident Lula da Silva zu verstehen, die Länder seiner Region seien es leid, Europa als gefälliger Rohstofflieferant zu dienen, um dessen steigenden Energiehunger zu stillen, ohne dass zusätzliche Wertschöpfung in der Region passiere. Dies war keine Abrechnung mit der Werteorientierung. Es war die unmissverständliche Aufforderung, endlich auch im realpolitischen Kern der Beziehungen, bei Handel und Wirtschaft, eine Politik zu betreiben, die die legitimen Rechte und Interessen der Menschen im Globalen Süden, an Entwicklung und sozialem Fortschritt zu partizipieren, ernst nimmt.

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Kleinbäuerin Claudine Hashazinyange mit Avocados vom Baum ihres Schwiegervaters.

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