Anders als in den vorherigen Jahren war die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Mitveranstalterin des World Health Summit (WHS) und nahm eine prominente Rolle auf dem Gipfel ein: Sie war auf fast allen Panels vertreten, vielfach in der moderierenden Rolle, und hätte damit Agenda und Richtung der Debatten beeinflussen können. Dieser Verantwortung wurden die Repräsentant*innen jedoch nur teilweise gerecht. Einerseits konnte die WHO-Repräsentation aus dem Globalen Süden einige wichtige Akzente setzen – zum Beispiel mit Forderungen nach der Ausrichtung großer Konferenzen zur globalen Gesundheit auf dem afrikanischen Kontinent. Andererseits blieben die Auftritte anderer hochrangiger WHO-Vertreter*innen vielfach vage und bezogen bei kritischen Themen nur unzureichend Stellung.
Viel Wohlfühlatmosphäre – wenig ehrlilche Debatten
Problematisch fiel eine quasi Werbeveranstaltung zur Fußball-WM in Katar auf: Die kurze Nachfrage der Moderatorin bezüglich der Menschenrechtsverbrechen an den dortigen Wanderarbeiter*innen wurde von der katarischen Gesundheitsministerin zurückgewiesen. Es habe in Katar keine Menschenrechtsverbrechen gegeben und alle Einwohner*innen hätten gleichwertigen Zugang zu öffentlichen Gesundheitsdienstleistungen. Dies wurde von WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus und den restlichen Panelist*innen unkommentiert gelassen; Nachfragen aus dem Publikum wurden gezielt umschifft. Panel und Moderatorin schienen - wie bei vielen anderen Veranstaltungen auch – hauptsächlich daran interessiert zu sein, den Eindruck von Einigkeit und positiver Zusammenarbeit zu hinterlassen.
Diese Wohlfühlatmosphäre wurde aufgebrochen von einigen Beiträgen der Wissenschaft, der sporadisch vertretenen Zivilgesellschaft sowie verschiedener UN-Repräsentant*innen aus dem Globalen Süden, welche die bestehenden Machtasymmetrien sowie die Dominanz des Globalen Nordens in den globalen Gesundheits- und Finanzinstitutionen kritisierten und eine Dekolonialisierung forderten. Beklagt wurde auch das Versagen der Staaten, sich als Zeichen der internationalen Solidarität für Impfgerechtigkeit und einen TRIPS-Waiver einzusetzen. Andererseits lobten vor allem Regierungen des Globalen Nordens Initiativen wie Covax und ACT-A als Positivbeispiele der multilateralen Zusammenarbeit. Generell wurde die koordinierende Rolle der WHO in der globalen Gesundheitsarchitektur nicht infrage gestellt.
Wer übernimmt die Verantwortung für die globale Gesundheitsversorgung?
Die WHO und zivilgesellschaftliche Vertreter*innen betonten die Verantwortung der Regierungen für den Erhalt und Ausbau nationaler Gesundheitssysteme und beklagten zurecht die massiven Finanzierungslücken im Gesundheitsbereich. Zugleich wurden immer wieder „multisektorale Partnerschaften“ zwischen Privatwirtschaft, Wissenschaft und Regierungen, etwa im Bereich der Ernährungssicherheit, der Entwicklung von Diagnose- sowie Behandlungsansätzen und digitaler globaler Gesundheitssysteme, als Lösungsansatz inszeniert – ohne die Umsetzung dieser Zusammenarbeit zu konkretisieren. Die Ausgestaltung der Rollen- und Machtverteilung zwischen öffentlichen und privaten Akteur*innen blieb meist vage und lässt befürchten, dass sich Spielraum für einen größeren Einfluss des Privatsektors ergibt.
Mehrere zivilgesellschaftliche Vertreter*innen warnten in Diskussionsrunden vor Interessenskonflikten, wenn der Privatsektor nicht nur in die Finanzierung und Umsetzung der Gesundheitsmaßnahmen, sondern auch in politische Entscheidungen und die Regulierung von Gesundheitsthemen einbezogen würde. Außerdem forderten sie, dass für die Zuteilung von öffentlichen Subventionen der freie Zugang zu intellektuellen Eigentumsrechten und Innovationen – wie zum Beispiel die Aufhebung des Patentschutzes auf Arzneimittel in Krisensituationen – von vornherein verpflichtend gemacht werden, um echte globale Gesundheitsgüter zu schaffen.
Individuelle Verhaltensänderungen für strukturelle Probleme?
Demgegenüber präsentierten sich einige Pharmaunternehmen selbst als unverzichtbare Partner für die Entwicklung und Verfügbarkeit neuer Diagnose- und Therapieansätze und untermauerten ihr Interesse an einer Kooperation mit dem öffentlichen Sektor. Großen Technologiekonzerne wiederum sahen ihre Rolle darin, Gesundheitsinformationen global verfügbar zu machen. In diesem Kontext merkte die zivilgesellschaftliche Vertretung in einer Diskussionsrunde an, dass Bevölkerungsgruppen mit mangelndem Zugang zu digitaler Infrastruktur durch eine zunehmende Digitalisierung des Gesundheitssystems zusätzlich benachteiligt würden.
Bemerkenswert ist zudem, dass die Technologiekonzerne ihre Verantwortung für das Management von Falschinformationen fast ausnahmslos zurückwiesen. Stattdessen müssten Kinder und Jugendliche, aber auch Erwachsene zu kritischen und eigenverantwortlichen Konsument*innen erzogen werden. Individuelle Verhaltensänderungen als Lösung für strukturelle Gesundheitsprobleme wurden auch von politischer Seite in unterschiedlichen Kontexten gefordert. So empfahl Karl Lauterbach jungen Menschen, ihr Leben in den Dienst der Pandemievorsorge zu stellen: Fridays for Future solle eine Untergruppe zur Pandemievorsorge etablieren. Zweiter Schwerpunkt seiner Rede war die Forderung nach einer finanziellen und institutionellen Stärkung der WHO.
Wenige Stimmen aus der Zivilgesellschaft und dem Globalen Süden
Der Globale Süden war auf dem WHS 2022 vor allem durch Regierungen, WHO-Regionalorganisationen und die Wissenschaft vertreten – die Zivilgesellschaft aus dem Globalen Süden und besonders Vertreter*innen vulnerabler Gruppen wie zum Beispiel von Menschen mit Behinderung waren stark unterrepräsentiert. Gerade auf Podien, die sich mit Themen wie Gesundheitsgerechtigkeit befassen, ist dies nicht nachvollziehbar. Dabei machten die positiven Ausnahmen deutlich, warum es mehr Integration dieser braucht: So pochten sie auf die Verantwortung von Politiker*innen und erinnerten daran, den Versprechen Taten folgen zu lassen. Sie forderten, ihre Expertise tatsächlich anzuerkennen und dafür entsprechende Beteiligungsmechanismen zu schaffen und sie nicht als reine Repräsentationssubjekte zu betrachten. Aufgrund der mangelnden Vertretung von Menschen aus dem Globalen Süden kamen einzelne süd-relevante Aspekte wie die besondere Betroffenheit von nicht übertragbaren Krankheiten und multiresistenten Keimen nur selten zur Sprache.
Auch die vorhandene Repräsentation des Globalen Südens insgesamt war nicht per se ausgewogen. Die Co-Patronage des WHS der African Union zeigte sich deutlich: Im Vergleich zu anderen Regionen des Globalen Südens waren afrikanische Länder übermäßig häufig auf Panels vertreten. Dies ist problematisch, da die unterschiedlichen Länderregionen verschieden stark von den multiplen Krisen betroffen sind und eine ausgewogene Repräsentation zwingend nötig ist. Überhaupt nicht repräsentiert waren indigene Bevölkerungsgruppen und spezifisch sie betreffenden Themen wie Territorialverlust und der Einbezug in ein universelles Gesundheitssystem (UHC). Positiv im Gedächtnis blieb hingegen die selbstkritische Erinnerung der WHO und der Wissenschaft, unterschiedliche Wissensformen einzubeziehen und den wissenschaftlichen Neo-Kolonialismus des Globalen Nordens im Gesundheitsbereich zu beenden.
Jedoch lässt sich festhalten, dass zivilgesellschaftliche Gruppen nur mangelhaft auf den Podien des WHS vertreten waren. Die inflationäre Nutzung von Begriffen wie “bottom-up-approach”, "community-based" oder "people-centered" erschien während der Debatten fast höhnisch. Konkrete Ideen, wie die Zivilgesellschaft wirklich beteiligt werden könnte, fehlten in den meisten Diskussionen.
One Health: viele Buzzwords, wenig Umsetzung
Auf den Panels erfolgte durchaus eine kritische Betrachtung der Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Krisen wie Gesundheit, Umwelt und Kriegen. Buzzwords wie „systemisch“, „holistisch“ und „One Health“ fielen und wurden thematisch angeschnitten. Jedoch ging damit selten eine strukturelle und ursachenfokussierte Diskussion einher. Damit wurden die Konzepte vielfach ihres eigentlichen Sinns beraubt. Der Fokus lag etwa im Bereich der Pandemien stark auf Bereitschaft statt auf echter Prävention: Datenerhebung und -analyse sowie der Aufbau von Frühwarnsystemen standen im Mittelpunkt, während strukturelle Veränderungen im Umgang des Menschen mit der Natur ausgeklammert wurden. Das wurde bereits am Eröffnungsabend auch von zivilgesellschaftlichen und wissenschaftlichen Aktivist*innen vor dem Konferenzgebäude kritisiert.
Insgesamt wurden im Laufe des WHS die verschiedenen Themen zu oft getrennt voneinander diskutiert und einzelne Gesundheitsaspekte herausgegriffen. So bekam beispielsweise das Thema Ausrottung von Polio große mediale Aufmerksamkeit. Dies ging jedoch zu Lasten einer holistischen Herangehensweise, die an der strukturellen Krise der globalen Gesundheitspolitik – dem gestörten Verhältnis der Menschen zur Ökosphäre – ansetzt.
Übertragen auf den Gesundheitsbereich erfordert dies zum Beispiel den Aufbau eines Systems der essenziellen Gesundheitsversorgung, die Menschen und Ökosphäre miteinbezieht, multi-dimensional wirkt und so verschiedene Probleme, darunter die Ausrottung von Polio, in Angriff nimmt. Eine übergreifende Diskussion statt des Fokus auf ein spezifisches Problem wäre hierbei angebracht. Positive Ausnahmen waren einzelne Beiträge von Wissenschaftler*innen und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen, vor allem aus dem Globalen Süden.
Entscheidend für substanzielle Fortschritte sind diverse und inklusive Diskussionsrunden. Das sollte bei künftigen World Health Summits berücksichtigt werden, um das Motto des diesjährigen Gipfels “Making the Choice for Health” für alle Bevölkerungsgruppen Realität werden zu lassen.
Dieser Blog wurde im Rahmen des gemeinsamen Projektes "Gegen-Lobby für Zukunftsgerechtigkeit" von Global Policy Forum, Misereor und Brot für die Welt geschrieben. Die Haupt-Autor*innen sind Isabelle Schindler (GPF), Antonia Leeb (GPF) und Matthias Walz (Brot für die Welt).