Mit dem Göttinger Friedenspreis werden Persönlichkeiten ausgezeichnet, die sich in herausragender Weise in Forschung und/oder Praxis für den Frieden eingesetzt haben. Die Jury der Stiftung Roland Röhl (Prof. Michael Brzoska, Dr. Ute Finckh-Krämer und Dr. Martina Fischer) wollte zum einen die Preisträgerin für ihr Lebenswerk auszeichnen und zum anderen die Vereinten Nationen würdigen, die als Instrument der Friedenssicherung und Institution für die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen unersetzlich sind und für 2024 einen „Zukunftsgipfel“ anvisieren.
Die Stiftungsvorsitzende Dagmar Freudenberg überreichte den Friedenspreis am 9. März bei einer Festveranstaltung im Göttinger Theatersaal mit den Worten: „In Zeiten wie diesen, wo die Stimmen für den Frieden und die Abrüstung wieder leiser werden, müssen wir die Menschenrechte, die nach dem Ende des 2. Weltkriegs die treibende Kraft zur Gründung der Vereinten Nationen waren, wieder in den Mittelpunkt rücken (...). Wir müssen alle Nationen und Staaten und alle bei uns lebenden Menschen daran erinnern, dass ein Leben in demokratischer Freiheit, persönlicher Unversehrtheit, Solidarität, Freiheit, Gerechtigkeit und Toleranz den Frieden für alle sichern kann. (...) Die Vereinten Nationen stehen seit über 75 Jahren für die Menschenrechte und diese Werte.“
Menschenrechte, Toleranz und Frieden in den Mittelpunkt stellen
Prof. Angela Kane bekleidete Führungspositionen im New Yorker UN-Hauptquartier und in Friedensmissionen in Mittelamerika (El Salvador, Guatemala) und Afrika (zum Beispiel in Äthiopien, Eritrea und Kongo). Sie thematisierte die systematische Anwendung sexualisierter Gewalt gegen Frauen im Krieg und sensibilisierte UN-Gremien für dieses Thema. Als „Hohe Repräsentantin für Abrüstung“ vermittelte sie zudem in Verhandlungen mit dem syrischen Assad-Regime. Kane legte die Grundlagen dafür, dass die Massenvernichtungswaffen aus Syrien in einer internationalen Mission abtransportiert und 2014 am Bundeswehrstandort Munster vernichtet werden konnten – in Abstimmung mit den NATO-Staaten und Russland.
Jürgen Trittin (ehemaliger Bundestagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen und Bundesminister) würdigte das in seiner Laudatio: „Ohne ihren Einsatz wäre auch das Bemühen von Angela Merkel nicht erfolgreich gewesen.“ Deren Ziel war es, eine Eskalation zu verhindern, denn ein bewaffneter Einsatz der USA gegen die Chemiewaffen in Syrien wäre damals auf eine militärische Konfrontation mit Russland hinaus gelaufen. „So sieht Friedenssicherung und Abrüstung sehr praktisch aus,“ fasste Trittin zusammen, denn „ein von den Vereinten Nationen organisierter Abtransport dieser Massenvernichtungswaffen war ein für alle Seiten gesichtswahrender Ausweg.“
Wiederkehr der Konfrontation
Angela Kane beschrieb in ihrer Rede die beruflichen Stationen in einer dynamischen Welt. Sie zog eine Linie vom Beginn ihrer UN-Karriere in den 1980er Jahren bis heute. Damals seien die Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion auf dem Tiefpunkt gewesen: „Es war die Zeit von Präsident Reagan, der die Sowjetunion als ‚böses Reich‘ (evil empire) titulierte und mit seiner Strategic Defense Initiative im Weltraum Amerika vor einem nuklearen Angriff der SU schützen wollte. Dialog zwischen beiden Staaten war nicht angesagt, aber die Sowjetunion wollte Dialog und bat die UNO als Vermittler.“ Angela Kane organisierte Konferenzen zu Fragen der Rüstungskontrolle, um den Westen und Osten zusammenzubringen, war häufig in Moskau, lernte Russisch und mit Wodka umzugehen – die Perestroika-Phase hatte begonnen, wenngleich das erst später ersichtlich wurde.
Heute stellt Kane fest, dass wir uns erneut in einer Phase befinden, in der die Akteure diesseits und jenseits des Atlantik nicht miteinander reden, wobei „der Grund ein radikal anderer ist: die Invasion Russlands in die Ukraine und der Krieg, der dort seit über zwei Jahren wütet. (...) Aufrüstung ist an der Tagesordnung, und die stabilen Strukturen der Rüstungskontrollverträge, die wir über Jahrzehnte aufgebaut haben, gehören der Vergangenheit an. Aber auch in dieser Situation müsse man sich fragen, wie es nach dem Krieg weitergehen soll. „Das sollte auch Aufgabe der UNO sein: Man muss konstruktive Ansätze finden, Einstiegspunkte, um den Dialog aufzugreifen.“
Die UNO stärken und nicht zum Sündenbock machen
Immer wieder, so beobachtet Kane mit Sorge, werde die UNO in einer komplexer werdenden Welt zum Sündenbock gemacht. Die heutige schwierige Situation dürfe man aber nicht der Institution oder dem Generalsekretär zur Last legen, so Kane. Antonio Guterres brauche die Unterstützung der Mitgliedsstaaten, um Aktionen umzusetzen: „Mit einer Staatengemeinschaft, die stark gespalten ist, können keine großen Ziele erreicht werden.“ Globale Zusammenarbeit habe sich verändert, meint Kane: „Es gibt unterschiedliche Abhängigkeiten, neue Formen der Zusammenarbeit, neue Politikfelder und Verbündete, neue Herausforderungen.“
Verschiedene Staaten konkurrierten nun auf der Weltbühne, und viele akzeptierten die überlieferten Schemata nicht mehr: Die inkonsequente Anwendung des Prinzips der Souveränität durch westliche Mächte mache es diesen nun schwer, „Unterstützung vom globalen Süden zu gewinnen. Das hat sich besonders in den Reaktionen auf den Angriff Russlands auf die Ukraine gezeigt, aber auch im Hamas-Israel Krieg, der nun seit fünf Monaten tobt.“ Die Vorherrschaft der fünf Siegerstaaten des 2. Weltkriegs im Sicherheitsrat mit Veto-Recht hält Kane für ein Relikt – ein Privileg, das nach Reform verlangt.
Zukunftsgipfel 2024: Multilateralismus als globales Gut
Trotz aller Schwierigkeiten – der Sicherheitsrat ist oft blockiert und Verhandlungen sind mühsam – lädt Generalsekretär Guterres zu einem Zukunftsgipfel im September 2024 ein. Ob ein ambitioniertes Schlussdokument zustandekommt, ist ungewiss. Der erste Entwurf (Zero Draft) gebe ihr jedoch Hoffnung, so Kane, dass es „gelingt, sich auf eine Gipfelerklärung zu einigen, die sich zum Multilateralismus bekennt, ihn als globales Gut anerkennt.“ Sie hoffe, dass es die Staaten schaffen, „Prioritäten zu setzen und den Zyklus der Feindseligkeiten zu mindern.“
Es brauche Zeit, neue Strukturen der Zusammenarbeit aufzubauen und erneut ein Minimum von Vertrauen zu entwickeln. Aber man müsse es versuchen: „Unsere Probleme sind grenzüberschreitend, kennen keine Grenzen; wir können nur als globales Projekt existieren. (...) Wir haben nur diese eine Welt und müssen sie für die nächsten Generationen erhalten. Das ist auch das Grundziel der Vereinten Nationen.“
Die Autorin ist Mitglied der Jury der Stiftung Roland Röhl, die den Göttinger Friedenspreis vergibt.