Während er 16 days of activism vom internationalen Tag der Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt bis zum internationalen Tag der Menschenrechte haben wir bereits über das Ausmaß von geschlechtsspezifischer Gewalt, und was Brot für die Welt und unsere Partner*innen dagegen tun, geschrieben.
Um geschlechtsbasierte Gewalt zu beenden sollte der Ansatz nicht sein, dass FLINTA* lernen müssen „Nein“ zu sagen. Es sollte nur noch das Prinzip „nur Ja heißt Ja“ gelten. Die Gesellschaft muss dahin transformiert werden, dass alle Parteien für körperliche, letztendlich jedoch für jede zwischenmenschliche Interaktion, Einwilligung geben müssen (Konsensprinzip). Schweden und Spanien änderten ihr Sexualstrafrecht zu „nur Ja heißt Ja“, infolgedessen eine Vergewaltigung vorliegt, wenn Sex nicht aktiv zugestimmt wurde. Doch in bestimmten Machtdynamiken kann eine Ablehnung unmöglich sein. Daher muss patriarchale Macht grundsätzlich abgebaut werden. Zusätzlich braucht es strukturelle Veränderungen, damit geschlechtsbasierte Gewalt lückenlos und ohne zusätzliche Belastung der Betroffenen aufgeklärt wird.
Überlebende und Angehörige von Überlebenden können sich bei geschlechtsspezifischer Gewalt kaum auf staatliche Strukturen verlassen. Häufig haben FLINTA* die Täter bei der Polizei vor der Ermordung aufgrund von Morddrohungen oder bereits ausgeübter Gewalt angezeigt. Sie werden jedoch nicht ernst genommen und ihnen wird Hilfe verwehrt. Ein Großteil der geschlechtsspezifischen Gewalt und Morde könnte also verhindert werden. Die meisten staatlichen Systeme versagen aber nicht nur auf der polizeilichen, sondern auch auf juristischer Ebene. In Deutschland sind die Anzeigen wegen Vergewaltigungen von ca. 13.500 jährlichen Anzeigen wegen Vergewaltigung 2014 auf knapp 16.000 2020 gestiegen. Doch werden nur rund 10% der Täter*innen verurteilt. Denn in einem Aussage-gegen-Aussage Fall haben Gewaltbetroffene laut Ronska Grimm und Anya Lean des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins e.V. schlechte Chancen für eine Verurteilung, wenn Gewaltbetroffene
- die Anzeige nicht sofort nach der Tat stellen,
- Spuren nicht gerichtsfest haben dokumentieren lassen,
- Missbrauch in der Kindheit erfahren haben,
- kein gutes Deutsch sprechen,
- die eigenen Rechte und das Rechtssystem nicht gut kennen,
- sich nicht ganz genau an Daten und Uhrzeiten erinnern,
- eine psychische Vorerkrankung hat,
- schon einmal ergebnislos angezeigt haben,
- körperlich oder kognitiv be_hindert werden,
- stark übergewichtig sind,
- sich im Jugendalter schon einmal geritzt haben,
- eine Beziehung mit der Gewaltausübenden haben oder hatten oder
- die Beziehungsperson nicht direkt nach der ersten Handgreiflichkeit verlassen hat,
- freiwillig mit auf ein Hotelzimmer gegangen sind,
- mit Gewaltausübenden in einem Umgang- oder Sorgerechtsstreit sind,
- mit Gewaltausübenden Drogen oder Alkohol konsumiert haben,
- in eine Schockstarre verfallen sind.
Gewaltbetroffene können sich also nicht auf staatliche Strukturen verlassen und suchen daher auch nach alternativen Möglichkeiten geschlechtsspezifische Gewalt aufzuklären und zu verhindern.
Ansätze zur Beendigung der Gewalt
Die Ansätze „kollektive Verantwortung“ und „transformative Gerechtigkeit“ gehen im Kern davon aus, das Gewaltausübende gesellschaftliche Machtdynamiken spiegeln. Diese Konzepte stammen aus der US-amerikanischen Schwarzen Widerstandbewegung gegen die Versklavung. Die Schwarzen endo cis Frauen, trans* Menschen und Queers* verstanden, dass staatliche Strukturen die Unterdrückung von marginalisierten Gruppen aufrechterhalten und somit auch geschlechtsspezifische Gewalt. Wir müssen als Gesellschaft kollektiv Verantwortung für diese Taten übernehmen. Häufig gab und gibt es im Umfeld der Gewaltausübenden Helfer*innen, die Tat durchzuführen oder zu vertuschen. Aus diesem Verständnis wächst der Ansatz, dass die Tat(en) als Gemeinschaft aufgearbeitet werden müssen. Der Wunsch von Gewaltbetroffenen, das Gewaltausübende den von ihnen verursachten Schmerz verstehen und ihr Verhalten ändern, wird im aktuellen System enttäuscht. Denn viele Gewaltausübende werden nach dem Gefängnisaufenthalt wieder straffällig.
Entgegen den aktuellen Vorgehensweisen, stehen bei kollektiver Verantwortung und transformativer Gerechtigkeit die Bedürfnisse der von Gewalt betroffenen Person im Zentrum. Sowohl die gewaltausübende, als auch von Gewalt betroffene Person haben jeweils eine Gruppe von Menschen als Unterstützung, die den Prozess der Verarbeitung begleiten. Bei Gewaltausübenden geht es um darum die eigenen Handlungsweisen zu reflektieren und zu verstehen, wo die Gewalt herrührt und Wege zu erkennen, wie sexuelle Gewalt gestoppt werden kann. Ziel neben der Widergutmachung der Gewalttat(en) ist auch Strukturen und Systeme der Gewalt in der Gesellschaft zu erkennen und diese aufzubrechen und zu verändern.
Lesehinweise und Quellen
[1] Quelle des Büros des Hohen Kommissars für Menschenrechte (OHCHR) zur Rolle der Polizei in der Vereitelung von Feminiziden: https://www.ohchr.org/sites/default/files/2022-01/femicide-observation-center-germany.pdf
[2] Zahlen zu Vergewaltigungen in Deutschland des Bundesverbands Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) als Teil der Kongress Dokumentation „5 Jahre Nein heißt Nein!“: https://www.frauen-gegen-gewalt.de/de/aktionen-themen/kampagnen/vergewaltigung-verurteilen/bff-kongress-5-jahre-nein-heisst-nein.html?file=files/userdata/bilder/aktuelles/Kongress/Kongress-Doku-bff-Nein_heisst_nein_barrierefrei.pdf&cid=13720
[3] Artikel von Ronska Grimm und Anya Lean des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins e.V. zu den ausschlaggebenden Bedingungen, wann es wahrscheinlicher ist, dass es vor Gericht zu einer Verurteilung von Vergewaltiger*innen in Deutschland bei einem Aussage-gegen-Aussage Fall kommt: https://www.rav.de/publikationen/rav-infobriefe/feministischer-infobrief-121-2021/kollektive-verantwortungsuebernahme-und-transformative-gerechtigkeit/
[4] Weiterführender Artikel zu den Konzepten kollektive Verantwortung und transformative Gerechtigkeit: taz.de/taz-Sonderausgabe-zu-Utopie/!5964901/