Interview

„Es ist in eurem Interesse, sich zu engagieren“

Rosemary Viswanath ist die Vorsitzende des Stiftungsrats der indischen NGO „Financial Management Service Foundation“. Sie beobachtet, wie sich die Debatte, ob Deutschland in die Entwicklung von Ländern wie Indien investieren sollte, verengt auf: Was haben wir davon? Und sie ist überzeugt: Geberländer profitieren von Investitionen genauso wie die Empfänger – sobald sich die Perspektive verändert.

Von Kai Schächtele am
Rosemary Viswanath

„Menschen und Umwelt sind keine Nebensächlichkeiten“: Rosemary Viswanath gehört zur Global Reference Group. Das 2013 gegründete Gremium achtet darauf, dass bei allen strategischen Fragen die Perspektiven jener gehört werden, mit denen Brot für die Welt zusammenarbeitet.

Frau Viswanath, Sie gehören zur Global Reference Group von Brot für die Welt und sind Vorsitzende des Stiftungsrats der Financial Management Service Foundation. Was ist das Ziel Ihrer Organisation?

Die Financial Management Service Foundation wurde 1994 gegründet, um zivilgesellschaftliche Organisationen dabei zu unterstützen, mit den ihnen anvertrauten Geldern gut und gewissenhaft zu wirtschaften. Die FMSF gibt Workshops und macht Lobbyarbeit und hat sich in den zurückliegenden drei Jahrzehnten zu einer wichtigen Stimme in Südasien entwickelt.

In Deutschland läuft im Moment eine intensive Debatte darüber, ob es sich das Land noch leisten kann, in die Entwicklungszusammenarbeit mit Ländern des Globalen Südens zu investieren. Welchen Sinn haben solche Investitionen?

Das hängt alles vom Zeitrahmen und vom Ziel ab. Welche Vision hat Deutschland? Geht es um lokale oder um nationale Verbesserungen? Hat das Land Europa oder die ganze Welt im Blick? Und wie reflektieren und analysieren die Deutschen, was dieses „besser“ ist? Sind damit materielle Güter gemeint oder gute geistige Gesundheit, das Empfinden von Glück, Frieden, Harmonie und Lebensqualität? Eine solche Analyse führt unweigerlich zu der Erkenntnis, dass es das Wohlbefinden aller erfordert, damit es jeder und jedem von uns gutgeht.

Das klingt schön. Aber am Ende ist doch vor allem ein Ziel entscheidend: Geht es den Menschen wirtschaftlich gut?

Ich sehe das etwas anders. Wohlbefinden ist nicht dasselbe wie wirtschaftliches Wohlergehen. Und die Frage ist zudem: An welcher Grenze entscheidet sich, ob es einem wirtschaftlich gut genug geht? Der grundlegende Zweck von menschlicher Entwicklung besteht darin, die Freiheit und das Potenzial des Menschen in einer Weise zu erweitern, die mit der Welt und den natürlichen ökologischen Systemen harmoniert. Ein unendliches Wirtschaftswachstum, das die Wirtschaft bzw. den Profit über alle anderen Ziele stellt, ist die Ursache für die Zerstörung vieler Freiheiten, des ökologischen Gleichgewichts und der menschlichen Sicherheit. Ja, ein angemessener Lebensstandard ist wichtig. Aber Faktoren wie Gesundheit, soziale Gerechtigkeit, Redefreiheit, Gleichberechtigung der Geschlechter oder ökologische Nachhaltigkeit sind genauso wichtig. Ich bin überzeugt, dass Zufriedenheit, innerer Frieden, gemeinschaftliche, respektvolle und harmonische Gemeinschaften nicht durch immer mehr Geld zu erreichen sind.

„Auch Deutschland ist an vielen Problemen beteiligt“

Sie sagen, der Sinn von Investitionen hänge vom gesetzten Ziel und dem Zeitrahmen ab, den man dafür definiert. Was meinen Sie damit?

Viele Menschen denken gerade: Wir können das Verbrennen fossiler Brennstoffe oder die industrielle Fleischproduktion nicht reduzieren. Denn das wirkt sich jetzt auf mein Wohlbefinden aus. Doch sobald sie einen längeren Zeitrahmen betrachten, werden sie erkennen, dass dies auf sie zurückfällt. Auch Deutschland wird sich von den langfristigen Folgen nicht abschirmen können. Solange sich das eigene Glück nur nach dem nationalen Bruttoinlandsprodukt bemisst, kann man es sich natürlich nicht leisten, in die Behebung von Problemen in anderen Teilen der Welt zu investieren. Aber wenn man den Kreis der Analyse erweitert, dann ist auch Deutschland an vielen Problemen beteiligt.

Können Sie die Ergebnisse eines solchen Engagements konkret beschreiben: Was ist der Sinn solcher Projekte?

Projekte der Entwicklungszusammenarbeit haben immer bestimmte messbare Ziele: Steigt die Bildung, nimmt die Gesundheit zu? Das ist gut so. Aber vielleicht schenken wir diesen messbaren Zielen zu viel Aufmerksamkeit. Wie bei den meisten Dingen im Leben sind die Auswirkungen vielschichtiger. Eine Frauenselbsthilfegruppe mag anhand einiger wirtschaftlicher Indizes gemessen werden. Aber das gewonnene Selbstvertrauen, der Mut und die Solidarität sowie die von diesen Frauen ausgeübte Führungsrolle lassen sich nicht in Zahlen ausdrücken, sind aber viel wertvoller. Es ist ein Schritt in Richtung einer gerechteren Welt. Der Aufbau dieses sozialen Kapitals und die Vision einer gerechten und ausgewogenen Welt ist der wahre Grund, warum man in Entwicklung investieren sollte.

„Kein einseitiger Prozess“

Wie lautet Ihre Botschaft an Länder des Globalen Nordens?

Ich bin der Meinung, dass der Globale Norden viel mehr darüber nachdenken muss, warum er in Entwicklungszusammenarbeit investiert und wie daraus eine echte Zusammenarbeit werden kann. Wenn der Norden nicht bereit ist, das tief verwurzelte Machtungleichgewicht und den Wunsch, alles kontrollieren zu wollen, aufzugeben, geht eine Menge kostbarer Mühe dabei verloren, die Finanzbuchhaltung und die Ergebnisse zu kontrollieren statt den Globalen Süden darin einzubinden, wie die Mittel verwendet werden sollen. Ein solcher Dialog erfordert die Bereitschaft beider Seiten, sich selbst besser kennenzulernen und bereit zu sein, der anderen Seite zuzuhören und von ihr zu lernen. Eine echte Entwicklungszusammenarbeit verändert die Realität des Geberlandes genauso wie die des Empfängers. Deshalb ist meine Botschaft: Es ist in eurem eigenen Interesse, sich zu engagieren.

Inwiefern?

Entwicklungszusammenarbeit ist kein einseitiger Prozess. Damit sich eine echte Zusammenarbeit entwickelt, müssen sich die Werte, der Blick auf die Welt und die Alltagsrealität des Gebers genauso verändern wie die des Empfängers. Wenn sich die Geberländer wirklich auf die Realitäten der Empfängerländer einlassen, entsteht die Möglichkeit, einen neuen Blick auf Fragen von Machtverteilung und Hierarchien zu entwickeln. Die Kolonisierung zum Beispiel beruhte auf der Annahme einer angeborenen Überlegenheit. Mit einem wahrhaftigen Engagement wird diese Annahme in Frage gestellt werden und das Verhältnis verändert sich von Gebern und Empfängern zu Partnern.

Und welche Folgen hätte es zum Beispiel in Indien, wenn der Globale Norden seine Investitionen zurückfahren würde?

Die Folgen sind bereits jetzt ganz real zu spüren. Die Kombination aus Schließung von Nichtregierungsorganisationen durch unsere Hardliner-Regierung und Kürzung der Mittel aus dem Norden hat dazu geführt, dass die Schwächsten noch mehr an den Rand gedrängt werden. Es ist wie immer: Die Armen und Ausgegrenzten sind am stärksten betroffen. Der Globale Norden muss verstehen, dass die einseitige Fokussierung auf gute Handelsbeziehungen dazu führen wird, Menschen und Umwelt noch weiter zu Nebensächlichkeiten zu erklären. Langfristig werden die Folgen auf ihn selbst zurückfallen.

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