Ende Juni veröffentlichte die EU-Kommission eine Überarbeitung des Visahandbuchs, das zum ersten Mal auf die Bedürfnisse von Menschenrechtsverteidiger:innen bei der Erteilung von Visa zur Einreise in ein EU-Land eingeht. Das Handbuch ist eine Auslegungshilfe für die konsularischen Abteilungen der Botschaften der EU-Mitgliedsstaaten weltweit bei der Erteilung von Visa. Anhand von Beispielen wie diesem geht das Handbuch insbesondere auf Ausnahmen von den normalen Prozeduren der Visavergabe ein, die die Visaregularien (der sog. EU-Visakodex) erlauben:
Example: A human rights defender, journalist or dissident urgently needs to travel to the EU, where he is invited by a well-known dissident and/or human rights organisation due to a temporary yet imminent risk to his personal security. His travel document will expire in little more than 2 months.
The competent consulate could decide to accept the application.
Zum ersten Mal werden Menschenrechtsverteidiger:innen, für die viele dieser Ausnahmen besonders relevant sind, explizit als mögliche Begünstigte genannt.
Schnelle Vergabe im Ernstfall
Die Sicherheitslage von Menschenrechtsverteidiger:innen ändert sich oft kurzfristig. Wenn neue Drohungen eingehen oder eine unmittelbar bevorstehende Verhaftung bekannt wird, müssen sie oft sofort ihr Land verlassen. In diesen Situationen bleibt meist keine Zeit, über den normalen Antragsweg ein Visum zu beantragen. Das überarbeitete Handbuch erkennt diese Realität an und definiert für Menschenrechtsverteidiger:innen mögliche Ausnahmen, die zu einer schnelleren Visavergabe führen können. Während Visaanträge normalerweise mindestens 15 Tage vor Ausreise bei der Botschaft eingehen müssen, können Visa auch im Schnellverfahren vergeben werden. Bisher hatten von dieser Ausnahme vor allem Geschäftsleute profitiert. Jetzt gilt sie auch für Menschenrechtsaktivist:innen.
Langzeitvisa als Sicherheitsressource
Besonders relevant ist auch, dass das Handbuch die Vergabe von Langzeitvisa an Menschenrechtsverteidiger:innen erwähnt. Solche „Multiple-Entry-Visa“ sind eine wichtige Sicherheitsressource für bedrohte Aktivist:innen, die beim Eintritt einer akuten Bedrohung sofort ausreisen können, ohne erst den aufwändigen Beantragungsprozess durchlaufen zu müssen. Wer ein solches Visum „in der Tasche hat“, kann Risiken, die mit dem Engagement für Menschenrechte verbunden sind, bewusster in Kauf nehmen.
Im Handbuch werden zum ersten Mal auch Menschenrechtsverteidiger:innen als mögliche „bona fide“-Antragsteller:innen genannt. Darunter werden Personen verstanden, die entweder der Botschaft persönlich bekannt sind oder die von vertrauenswürdigen Organisationen eingeladen werden. In diesem Fall kann die Botschaft darauf verzichten, dass die Antragstellerin oder der Antragsteller unter anderem Dokumente zur eigenen finanziellen Lage erbringen muss, deren Beschaffung oft zeitaufwändig ist.
Andere Erleichterungen betreffen den möglichen Verzicht auf Visagebühren, Ausnahmen bei der Mindestgültigkeit von Pässen und die Möglichkeit, Visa auch von Drittstaaten aus zu beantragen und nach Einreise in die EU zu verlängern.
Forderungen aufgegriffen
In der überarbeiteten Fassung des Handbuchs greift die EU-Kommission eine Reihe von Empfehlungen auf, die Brot für die Welt und andere Menschenrechtsorganisationen, die UN-Sonderberichterstatterin für Menschenrechtsverteidiger:innen und Wissenschaftler:innen gemacht hatten. Eigentlich gaben schon die bisherigen Visaregularien den Botschaften große Spielräume, um Menschenrechtsverteidiger:innen im Ernstfall unbürokratisch lebensrettende Visa auszustellen. Doch leider machten bisher nicht alle Botschaften von diesen Möglichkeiten Gebrauch. Das überarbeitete Handbuch ist deswegen ein wichtiger Schritt, den Schutz von Menschenrechtsaktivist:innen in der tagtäglichen Praxis der Visavergabe zu verankern.
Verankerung im Visakodex notwendig
Trotzdem kann die Überarbeitung des Handbuchs nur eine erste Etappe darstellen. Denn ohne die Reform der zugrundeliegenden Visaregularien bleibt die Vergabe von Visa weiterhin alleine im Ermessensspielraum der Botschaften. Erst wenn Menschenrechtsverteidiger:innen als gesonderte Kategorie berechtigter Personen im Visakodex verankert werden würden, hätten sie einen Rechtsanspruch auf die Erteilung von lebensrettenden EU-Visa.