Seit Anfang Dezember erschüttert der als „Qatargate“ bezeichnete Korruptionsskandal das Europäische Parlament (EP) und die gesamte EU. Dabei werden die inzwischen abgesetzte Vizepräsidentin des Parlaments, Eva Kaili, weitere Abgeordnete und Parlamentsmitarbeitende beschuldigt, Bestechungsgelder angenommen und als Gegenleistung Interessen des Golfstaats vertreten zu haben. Alle Beschuldigten gehören der sozialdemokratischen Fraktion des EP an. Brisant ist auch, dass scheinbar zwei Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in die Bestechungsvorwürfe verwickelt sind, die nach außen hin als Menschenrechtsorganisationen auftraten.
Qatargate bringt Menschenrechtsarbeit in Gefahr
Eine lückenlose Aufklärung dieses Skandals und die Einführung weiterer Maßnahmen zur Prävention von Korruption und illegitimer Einflussnahme sind unbedingt notwendig. Leider sind die Vorschläge, die nun von der konservativen EPP-Fraktion als Antwort auf den Skandal unterbreitet wurden, nicht nur ungeeignet, zukünftige Korruptionsfälle zu verhindern. Sie würden im Gegenteil die Menschenrechtsinstrumente des Europäischen Parlaments massiv beschneiden. In ihrem Zentrum steht der Unterausschuss für Menschenrechte des Parlaments DROI.
Die EPP hat vorgeschlagen, alle Aktivitäten des Menschenrechtsunterausschusses DROI einzufrieren und keine Dringlichkeitsentschließungen (sog. „urgency resolutions“) zu gravierenden Menschenrechtskrisen mehr zu verabschieden. Zudem sollen zukünftig die Finanzen von NGOs stärker kontrolliert werden. Es ist zu befürchten, dass andere, radikalere Kräfte innerhalb des Parlaments, denen dessen Einsatz für die Menschenrechte ein Dorn im Auge ist, in der Folge des Skandals ebenfalls auf eine Beschneidung der Menschenrechtsarbeit drängen werden.
Das Europäische Parlament: wichtiger Vorkämpfer für die globale Durchsetzung von Menschenrechten
Im Laufe der Jahre hat sich das Europäische Parlament sowohl innerhalb als auch außerhalb der EU als starke, kritische Stimme erwiesen, die Menschenrechtsverletzungen auch dann offen anspricht, wenn andere EU-Institutionen dazu schweigen. Der Menschenrechtsunterausschuss DROI spielt dabei eine Schlüsselrolle: Er setzt die Menschenrechte in der Außenpolitik der EU und in der Zusammenarbeit mit ihren Partnern an erste Stelle. Die Anhörungen im Ausschuss sind eine wertvolle Plattform für zahllose Menschenrechtsverteidiger:innen, Aktivist:innen und Vertreter:innen der Zivilgesellschaft aus aller Welt, die - oft unter großem persönlichem Risiko - über die von repressiven Regierungen begangenen Menschenrechtsverletzungen berichten.
Ebenso bringen Dringlichkeitsentschließungen viele Fälle von inhaftierten oder schikanierten Menschenrechtsaktivist:innen, Journalist:innen, Anwälten:innen und anderen zur Sprache und prangern Menschenrechtsverletzungen, repressive Gesetzgebung und missbräuchliche Politiken von Regierungen und Unternehmen an. Sie ermutigen vor allem auch den Europäischen Auswärtigen Dienst, den Rat, die EU-Delegationen und andere Institutionen, das breite Menschenrechtsinstrumentarium der EU - einschließlich gezielter Sanktionen, bilateraler Diplomatie, Initiativen bei den Vereinten Nationen und handelsbezogener Maßnahmen - zu nutzen, um gegen diese Verstöße vorzugehen.
Die Menschenrechtsarbeit des EP hat auch konkrete Erfolge vorzuweisen. Auf Druck des EP wurden Menschenrechtsverteidiger:innen und politische Gefangene freigelassen, repressive Gesetzesvorhaben gestoppt oder Reformen eingeleitet und insgesamt Fortschritte bei der Durchsetzung von Menschenrechten in der ganzen Welt erzielt. Darauf sollte das Europäische Parlament stolz sein.
Korruptionsbekämpfung ja, Diskreditierung der Menschenrechtsarbeit nein
Brot für die Welt begrüßt alle Untersuchungen und Initiativen, die den Vorwürfen im Qatargate auf den Grund gehen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen und konkrete Anti-Korruptionsmaßnahmen ergreifen. Gleichzeitig warnen wir davor, alle Menschenrechtsaktivitäten des Europäischen Parlaments zu stoppen und die Integrität und den Beitrag aller zivilgesellschaftlichen Organisationen bei der Gestaltung der EU-Politik pauschal in Frage zu stellen. Ein solcher Schritt wäre ausschließlich im Interesse der Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen innerhalb und außerhalb der EU und zum Nachteil ihrer Opfer. Die Folge dieser Krise kann und darf nicht darin bestehen, das Europäische Parlament zum Schweigen zu bringen und all die gute Menschenrechtsarbeit, die das Parlament seit Jahren leistet, zu diskreditieren. Vielmehr sollte das Parlament seine Bemühungen wieder aufnehmen und verdoppeln, um lauter und stärker gegen Missstände aufzutreten.
Daher haben wir gemeinsam mit den 58 weiteren Mitgliedern des Human Rights and Democracy Networks einen Offenen Brief formuliert (siehe unten). Dessen wichtigste Botschaft lautet: Jeder Versuch, Qatargate zu instrumentalisieren, muss umgehend gestoppt werden.