Dazu gehören patriarchale Gesellschaftsstrukturen und Institutionen sowie die Stereotypisierung von Geschlecht, die Entscheidungs- und Entwicklungsmöglichkeiten von Frauen, Männern und queeren Personen beschränken. Schließlich stellt geschlechtsbasierte und sexualisierte Gewalt, die der Aufrechterhaltung bestehender Macht- und Wertehierarchien dient, eine weitere Hürde dar.
Weniger Rechte für Frauen
Die Folgen sind gravierend. Laut Weltbank haben Frauen im Durchschnitt nur 2/3 der gesetzlichen Rechte, die Männer haben. Sie verbringen täglich dreimal mehr Zeit mit unbezahlter Sorgearbeit als Männer. Das wirkt sich benachteiligend auf ihre beruflichen und wirtschaftlichen Chancen aus. Im globalen Süden arbeiten 92 Prozent der Frauen im informellen Bereich, d.h. ohne Verträge, soziale Absicherung, festes Gehalt, etwa als Straßenverkäuferinnen, Landarbeiterinnen oder Haushaltshilfen.
Diese Blitzlichter verdeutlichen, wie essenziell soziale Sicherheit gerade für Frauen und queere Menschen ist, die aufgrund ihrer Benachteiligung auch besonders von Armut betroffen sind. Feministische Analysen sind wichtig, weil sie sich mit Geschlechterverhältnissen als Machtverhältnisse befassen. Werden sie nicht berücksichtigt, werden Ungleichheit und Ungerechtigkeit fortgesetzt. Das gilt auch für soziale Sicherheit (s. Grafik).
Intersektionaler Feminismus
Intersektionaler Feminismus hat das Ziel, diejenigen sichtbar zu machen, die sich überschneidende, gleichzeitige Formen der Diskriminierung erleben. Es geht darum zu begreifen, wie unterschiedliche Faktoren, die Ungleichheit schaffen wieAlter, Behinderung, soziale Herkunft, Gender Identität sexuelle Orientierung, Migrationsstatus auf vielfältige Weise zusammenwirken. So ist der Zugang zu Gesundheitsdiensten für indigene Frauen und Mädchen in der Regel schlechter als für nicht-indigene, d.h. indigene Frauen und Mädchen werden sowohl aufgrund ihrer Herkunft als auch aufgrund ihres Geschlechts benachteiligt.
In diesem Sinne sorgt der intersektionale Feminsmus für die (An)Erkennung von Mehrfachdiskriminierung und ihren Folgen. Er macht damit auch Schluss mit der verbreiteten Annahme, dass es sich bei Frauen und anderen marginalisierten Menschen um homogene Gruppen handelt. Es wird deutlich, wie groß die Diversität der Betroffenen ist und damit auch ihre Interessen und Bedarfe. Für soziale Sicherheit bedeutet diese Komplexität, dass Ansätze, Programme und Maßnahmen passgenauer definiert und umgesetzt werden müssten, eine große Herausforderung! Soziale Sicherheit kann jedoch einen relevanten Beitrag zur mehr Geschlechtergerechtigkeit leisten, wenn dieses Ziel bei der Ausgestaltung aktiv in den Blick genommen wird.
Differenzierte Analysen
Feministische Analysen zu sozialer Sicherheit tragen dazu bei, dass der gesamte Lebenszyklus und damit auch häufig vernachlässigte Lebensrisiken in den Blick geraten. Nur so werden beispielsweise die Benachteiligung von Mädchen in Ernährung und Bildung, Teenagerschwangerschaften oder die hohen Anforderungen in Haus- und Sorgearbeit in allen Lebensphasen, die Teilhabechancen am formellen Arbeitsmarkt beeinträchtigen, sichtbar. Und können bei der Ausgestaltung sozialer Sicherheit berücksichtigt werden.
Geschlechtergerechtigkeit muss nicht nur in der Risikoanalyse, sondern im gesamten Politikzyklus berücksichtigt werden: im nationalen sozialen Dialog, bei der Ausgestaltung von Politiken und Programmen, in der praktischen Umsetzung und in Monitoring und Evaluierung. Der feministische Anspruch ist dabei immer ein emanzipatorischer. Deshalb bedeutet Berücksichtigung konkret Beteiligung der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und ihrer zivilgesellschaftlichen Organisationen: „Nothing about us, without us!“
Aktive Umverteilung
Auch in der sozialen Sicherheit kann es leicht zu einer erneuten Benachteiligung von bereits schlechter gestellten Gruppen kommen. Das passiert insbesondere dann, wenn die auf dem Arbeitsmarkt bestehende geschlechterbedingte Ungleichheit einfach reproduziert wird. So dominiert beispielsweise in einer privatwirtschaftlich organisierten Rentenversicherung das Äquivalenzprinzip. Die nach der Pensionierung gezahlten Renten errechnen sich aus Anzahl und Höhe der Beitragszahlungen auf der einen Seite und dem „Risiko“ der Langlebigkeit auf der anderen Seite. Fehlende Teilhabe, Lohnbenachteiligung auf dem Arbeitsmarkt oder Unterbrechungen der Erwerbstätigkeit für Sorgearbeit führen dann direkt zu fehlenden oder niedrigen Renten.
Um soziale Sicherheit gendergerecht auszugestalten, müssen bestehende Ungleichheiten aktiv überwunden werden, es muss bewusst umverteilt werden. In einer Sozialversicherung ist das durch gesellschaftliche Entscheidungen und politische Regulierung möglich. So kann beispielsweise die Anerkennung von Erziehungs- und Pflegezeiten das Solidarprinzip stärken. In Ländern mit einem großen informellen Sektor oder sehr geringer Teilhabe von Frauen auf dem formellen Arbeitsmarkt ist Umverteilung eher durch die Stärkung von beitragsunabhängigen Leistungen, in der Regel steuerfinanzierte Grundsicherung möglich, beispielsweise durch Kindergeld, Grundrente oder kostenlosen Zugang zu öffentlicher Gesundheitsversorgung.
Sorgesektor stärken
Eine feministische Forderung ist die Umverteilung der unbezahlten Sorgearbeit in Familie und Gesellschaft. Sozialstaatliche Anreize zur Beibehaltung der traditionellen Rollenverteilung (z.B. Ehegattensplitting) sollten deshalb infrage gestellt werden.
Gleichzeitig ist die Stärkung der öffentlichen sozialen Infrastruktur – Betreuung und Bildung, Gesundheit und Pflege – und die Gewährleistung von Zugangsrechten von hoher gesellschaftlicher Priorität. Arbeitsbedingungen im Sorgesektor müssen positiv umgestaltet und Lohngerechtigkeit hergestellt werden. Die feministische Sozialstaatsdebatte bringt nicht zuletzt auch die Frage um die Gestaltung des Sorgesektors zur Sprache: Menschen wollen nicht auf Objekte der Fürsorge reduziert werden. Es geht nicht nur um soziale Absicherung, sondern um Mitgestaltung und Partizipation in allen Lebensabschnitten, um Selbstbestimmung und solidarische Praxis.
Transformation mitgestalten
Wenn wir bereit sind, ein anspruchsvolles Szenario zu entwerfen, dann setzen wir nicht nur auf gendersensible Programme, sondern auf einen Beitrag zur gesellschaftlichen Transformation hin zu mehr Geschlechtergerechtigkeit. Ein Sozialtransfer, der Ressourcen in die Hände von Frauen gibt, nimmt ihre starke Rolle als Sorgende für das Wohl der Kinder wahr. Um transformativ zu wirken, also bestehende geschlechtsspezifische und strukturelle Ungleichheit zu überwinden, ist darüber hinaus jedoch eine kritische Auseinandersetzung mit Rollen, Normen und daraus resultierenden Benachteiligungen notwendig. Die Wege zu transformativen Veränderungen müssen über verschiedene Ebenen führen: auf der individuellen Ebene geht es um gendergerechte Investition in Ernährung, Gesundheit und Bildung, Risikominderung und Ressourcenzugang für Frauen und Mädchen. Auf der Haushaltsebene braucht es eine Umverteilung von Arbeitslast und eine Überwindung des geschlechtsspezifischen Machtgefälles, gesellschaftlich eine gleichberechtigte Teilhabe auf dem Arbeitsmarkt und im sozialen Dialog.
In diesem Zusammenhang gilt es auch Ansprüche an die internationale Gemeinschaft zu stellen. Zuallererst ist das natürlich internationale Steuergerechtigkeit, damit Länder ihre soziale Sicherheit finanzieren können. Darüber hinaus braucht es einen solidarischen internationalen Finanzierungsmechanismus, der Länder mit niedrigem Einkommen beim Aufbau von Grundsicherung (Social Protection Floors) unterstützt und zwar im Sinne einer „feministischen Entwicklungspolitik“ – auf der Basis von Ownership der Länder, einer demokratischen Governance und zivilgesellschaftlicher Beteiligung, insbesondere auf nationaler Ebene.
Der Text ist die Zusammenfassung eines Inputs von Nicola Wiebe und Carsta Neuenroth (Brot für die Welt) zum Thema „Feministische Perspektiven auf soziale Sicherungssysteme“. Sie fand am 14.11.2022 im Rahmen einer Ringvorlesung zu sozialer Sicherung der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), Engagement Global und der Alice Salomon Hochschule statt.