Dass die nächste Weltklimakonferenz im November 2024 in Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans stattfinden wird, war nur möglich, weil Armenien (und Bulgarien) ihre Bewerbungen zurückzogen. Teil des Deals waren offenbar die Vereinbarung zur Freilassung von Gefangenen aus den Kriegen 2020 und 2023 um die Region Bergkarabach zwischen Aserbaidschan und Armenien sowie weitere vertrauensbildende Maßnahmen. De facto wurde Anfang Dezember die Freilassung von 32 armenischen Gefangenen und deren Rückkehr nach Armenien veranlasst, im Gegenzug wurden zwei aserbaidschanische Gefangene an Aserbaidschan ausgeliefert.
Zuletzt hatte Aserbaidschan am 19. September 2023 erneut eine militärische Offensive gegen die Enklave Bergkarabach und die dort lebende mehrheitlich armenisch-stämmige Bevölkerung als „Anti-Terror-Maßnahme“ gestartet und einen Tag später seinen Sieg verkündet. Aserbaidschan forderte laut verschiedenen Medienberichten die Bevölkerung direkt auf, die Region zu verlassen, und eine Entwaffnung der verbleibenden Kämpfer. Es fand ein nahezu vollständiger Exodus der mehrheitlich armenisch-stämmigen Bevölkerung der Region statt.
100.000 Geflüchtete - eine schwierige Lage für Armenien
Für Armenien, ein kleines Land mit rund 2,5 Millionen Einwohner:innen, ist es eine Mammutaufgabe, die mehr als 100.000 Geflüchteten unterzubringen und ihnen im Land eine langfristige Lebensperspektive zu bieten. Denn zurück, so berichten unsere Partnerorganisationen, will unter den gegebenen Umständen niemand mehr. Zu tief sei das Misstrauen gegenüber Aserbaidschan, zu nah seien die Erfahrungen aus der Sowjetzeit mit den Progromen und aus den vergangenen Kriegen, zu schockierend die vielen Hassbotschaften über Social Media. Nur mit internationalen Sicherheitsgarantien könnte über eine Rückkehr verhandelt werden – aber das halten die meisten für eher unrealistisch, heißt es in Gesprächen mit unseren armenischen Partnern. Aserbaidschan seinerseits siedelt bereits die ersten aserischen Karabach-Flüchtlinge aus den 1990er-Kriegen in der Region an.
Die Mehrzahl der Geflüchteten bleibt also erstmal in Armenien, nur wenige emigrieren weiter ins Ausland. Derzeit sind sie zumeist bei Freunden und Verwandten sowie in öffentlichen Gebäuden untergekommen. Einige haben auch eigene Immobilien in Armenien beziehen können. Auch zivilgesellschaftliche Organisationen stellen teilweise Unterkünfte bereit, wie beispielsweise unsere Partnerorganisation Syunik NGO und die armenisch-apostolische Diözese Vayots Dzor. Eine langfristige Lösung scheint derzeit nicht in Sicht, denn es fehlen dafür Wohnungen und Häuser. Humanitäre Hilfe für die Geflüchteten und diese aufnehmende Bevölkerung ist also langfristig notwendig. Aber auch Entwicklungszusammenarbeit ist unverzichtbar.
Gefährliche Flucht nach Russland
Einige Geflüchtete aus Karabach seien mittlerweile aufgrund der fehlenden Arbeitsmöglichkeiten nach Russland zu Verwandtschaft weitergezogen, berichten Partnerorganisationen von Brot für die Welt. Offizielle Zahlen dazu gebe es aber nicht. Dort droht ihnen die Einberufung ins russische Militär, um in der Ukraine zu kämpfen.
Für die armenische Politik ist dies eine schwierige Situation, da das Verhältnis zu Russland sich deutlich verschlechtert hat. Trotzdem ist die wirtschaftliche und sicherheitspolitische Abhängigkeit groß. Gleichzeitig ist der westlich und auf demokratische Reformen ausgerichtete Kurs der armenischen Regierung unter Ministerpräsident Nikol Pashinian dem russischen Präsidenten Putin ein Dorn im Auge. Eine wachsende armenische Diaspora in Russland wäre ein zusätzliches Druckmittel für Putin, um die Westorientierung Armeniens zu unterwandern und die politische Situation im Land zu destabilisieren.
Im Schatten der Megakrisen lauern neue Bedrohungen
Im Schatten der Megakrisen um die Ukraine und Nahost befürchten nun viele eine neue militärische Bedrohung durch Aserbaidschan, das mit Unterstützung der Türkei und unter Duldung von Russland seinen Wunsch nach einer Landverbindung, den sogenannten „Zangezur-Korridor“, zu seiner Exklave Nachitchewan mit Waffengewalt durchsetzen könnte. Diese Verbindung würde gleichzeitig einen direkten Transportweg in die Türkei eröffnen – ein geostrategisch wichtiger Schachzug auch u.a. für die Öl- und Gaslieferungen vom Kaspischen Meer nach Europa. So ein Transportkorridor unter aserbaidschanischer Kontrolle würde aber die Handelsrouten vom Iran durch Südarmenien blockieren. Der Iran hat sich auf Armeniens Seite gestellt und verkündet, man wolle dagegen einschreiten.
Die „Crossroads for Peace“ als Stepping stone zum Friedensschluß?
Die armenische Regierung hat dagegen im November den umfangreichen Plan „Crossroads for Peace“ vorgelegt. Dieser enthält die verschiedensten Handels- und Verkehrswege, die rehabilitiert oder auch neu eröffnet werden könnten. Dadurch würde sich Armenien aus seiner isolierten Situation befreien und Aserbaidschan mehrere Handelskorridore durch Armenien gen Westen erhalten. Der Plan enthält auch die Wiedereröffnung der Eisenbahnlinie von Baku durch Südarmenien und Nachitschevan bis in die Türkei. Allerdings ist eine Vorbedingung für all diese Korridore, dass die jeweiligen Streckenabschnitte unter Kontrolle der jeweiligen Länder bleiben, um für Sicherheit zu sorgen. Bisher ist jedoch nicht klar, ob Aliev und seine Unterstützer Erdogan und Putin sich darauf einlassen werden.
Die Rolle der EU
Während von der EU-Kommission noch keine Anzeichen kommen, an der Gas- und Energiepartnerschaft mit Aserbaidschan zu rütteln, versucht die EU-Ratspräsidentschaft, zwischen Aserbaidschan und Armenien zu vermitteln. Doch auf die letzten Einladungen hat Aserbeidschan nicht reagiert.
Chance oder Bedrohung?
Trotz der Hoffnungen, die der Gefangenenaustausch einerseits und die Angebote der armenischen Regierung andererseits in Bezug auf die Handelskorridore schüren, scheint eine Fortsetzung eines Friedensprozesses noch in weiter Ferne. Befürchtungen vor einem erneuten Waffengang Aserbaidschans wachsen wieder.
Bereits im Oktober 2023 empfahlen Laure Delacour und Stefan Meister deswegen in ihrem Policy Brief zum Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan der EU, sich dem autoritären Machtgehabe aus Aserbaidschan verstärkt entgegen zu stellen. Und um weitere Aggression zu verhindern, die Androhung von Sanktionen z.B. im Bereich Gas oder auch das Einfrieren ausländischer Konten von aserbaidschanischen Regierungsmitgliedern.
Engagement in der europäischen Nachbarschaft ist dringend weiter nötig
Es ist im eigenen Interesse der EU, in der direkten Nachbarschaft keinen erneuten Krieg und militärischen Übergriff Aserbaidschans auf Armenien zuzulassen. Deswegen sollten Deutschland und die EU nicht nachlassen in ihrem Engagement für die Region Südkaukasus. Dazu gehören auch langfristig häufige hochrangige Besuche in der Region. Die Reisen von dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, Michael Roth, im Oktober 2023 sowie von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock Anfang November kamen sehr gut in Armenien an und haben für die Bevölkerung ein wichtiges Signal hinterlassen. Das sollte unbedingt fortgesetzt werden, um die wiedergewonnene Hoffnung der armenischen Bevölkerung in die westliche Wertegemeinschaft der EU, in Menschenrechte und Demokratie wieder zu stärken.
Was Deutschland und die EU tun sollten
Deutschland und die EU sollten ihre Unterstützung der Reformbemühungen und des Demokratie-Ausbaus der armenischen Regierung unbedingt fortsetzen. Und sich für die Freilassung weiterer politischer Gefangener aus aserbaidschanischen Gefängnissen einsetzen. Außerdem braucht es humanitäre Hilfe sowie Unterkünfte für die aus Karabach Geflüchteten und der sie unterstützenden armenischen Bevölkerung, die selber vielfach in großer Armut lebt.
Und: Die EU sollte sehr zügig die Gas- und Energiepartnerschaft mit Aserbaidschan auf menschenrechtliche und friedenspolitische Kriterien hin überprüfen und potentielle Sanktionen, zum Beispiel hinsichtlich Visa oder Konten von aserbaidschanischen Regierungsmitgliedern in Betracht ziehen. Und dies, bevor es zu erneuten militärischen Bedrohungen für Armenien kommt! Auch militärische Angriffe und Schießereien an der Grenzlinie zwischen Armenien und Aserbaidschan sollten zu Sanktionen führen.
Die EU-Beobachtermission EUMA sollte noch weiter aufgestockt und langfristig eingesetzt werden, um die umstrittenen Grenzen zu überwachen und damit auch ein deutliches Signal der Solidarität zu geben.