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Gestrandet in Agadez

In Nigers nördlichster Provinz befinden sich zehntausende Migrant*innen und Geflüchteten in einer humanitären Notlage. Gestoppt von einem militarisierten Grenzregime, abgeschoben von Algerien, geflohen aus Libyen oder abgestellt und vergessen in den Wirren des nigrischen Asylsystems nehmen Not und Verzweiflung der Menschen täglich zu. Mehr internationale Hilfe ist dringend nötig.

Von Dr. Andreas Grünewald am
Zwei Gestrandete Migrant*innen aus Mali in den Räumen unseres Partners Alarm Phone Sahara.

Zwei Gestrandete Migrant*innen aus Mali in den Räumen unseres Partners Alarm Phone Sahara.

Menschen, die ihre Hoffnung und Würde verloren haben, schauen einem nur schwer in die Augen. Habe ich mal gehört. Gesehen habe ich es in Agadez, Hauptstadt der gleichnamigen Provinz im Norden Nigers. Viele dort ducken sich mit dem Blick weg, während sie mir ihr Schicksal erzählen. Von Irrwegen ohne Wasser durch die Wüste, von Haft, Zwangsarbeit und Erpressung in Libyen oder von gewalttätigen Abschiebungen aus Algerien. Es gibt viele dieser Geschichten. Laut Schätzung des Bürgermeisters hat sich die Einwohnerzahl der Stadt in den letzten zehn Jahren von 130.000 Personen zumindest verdoppelt, wenn nicht verdreifacht. Migrant*innen – aus Nigeria, Sierra Leone, Mali oder Niger selbst – haben daran einen zentralen Anteil.

Migrant*innen im Sahel: Kaum Unterstützung trotz humanitärer Notlage

Dass immer mehr Menschen hier stranden, hat viel mit der Externalisierung der europäischen Migrationskontrolle zu tun. Seit der Implementierung des Gesetzes 036-2015 sind die Grenzen Richtung Norden nur mehr schwer passierbar – und auch Flüchtende sollen nun Asyl im Niger finden (siehe unten). Zugespitzt hat sich Lage derzeit durch weitere Entwicklungen: Die katastrophale Sicherheitslage für Migrant*innen in Libyen, die zunehmenden Abschiebungen aus Algerien, aber auch die fehlende Unterstützung der internationalen Gemeinschaft.

Zwar betreibt die Internationale Organisation für Migration (IOM) vier Transit Center in der Region, von der aus sie freiwillige Rückkehrprogramme in Herkunftsländer durchführt. Aufgrund von Überlastung nehmen jedoch zumindest drei der vier Zentren – darunter das in der Provinzhauptstadt – seit Oktober keine neuen Menschen mehr auf. Widersprüchliche Angaben gibt es über das vierte Zentrum in Assamaka – dem ersten Dorf, das von Algerien Abgeschobene nach einem 12 Kilometer langem Fußmarsch durch die Wüste erreichen. Fest steht: auch in Assamaka sind die Versorgungsstrukturen längst zusammengebrochen. Tausende Menschen kämpfen in dem kleinen, unwirtlichen Wüstenort ums nackte Überleben. Das berichten die Streckenposten unseres Partners Alarm Phone Sahara (APS) vor Ort. Sie geben ihr Bestes, um zumindest einige Notleidende zu unterstützen.

Am Ende

Auch in Agadez-Stadt ist die Situation kaum besser. Egal, mit wem ich bei der Cuisine Collective (Gemeinschaftsküche) von APS oder in den Ghettos, in denen viele Migrant*innen wohnen, spreche: Sie alle scheinen jede Hoffnung, ihr Schicksal nochmal selbst herumreißen zu können, fallen gelassen zu haben. Viele der Gestrandeten leiden unter den psychischen und physischen Folgen der brutalen Razzien der algerischen Sicherheitskräfte oder der Lagerzeit in Libyen. Kaum eine Frau, der man begegnet, war nicht Opfer von Vergewaltigung und/oder Zwangsprostitution, die sich auch in Agadez selbst immer mehr etabliert.

„Es ist sehr erniedrigend, aber ich muss jeden Tag am Markt um Essen betteln. Abends schlafe ich auf der Straße. Ich will nur noch mehr nachhause“, erklärt ein Migrant aus Mali, den Blick starr auf den Teppich gerichtet. So wie ihm geht es vielen. Auch wenn noch immer Menschen versuchen, weiter Richtung Norden zu kommen. Viele wollen nur mehr zurück, haben aber nicht einmal genug Geld, um ihre Familien anzurufen.

 „Man hat uns vergessen“ – Externalisierung des Flüchtlingsschutzes im Niger

Anderes und doch ähnliches Elend begegnet mir im Humanitarian Center der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR. Humanitär ist an diesem Lager wenig. Schon die Lage ist prekär, mitten in der Wüste, abgeschnitten von der Stadt. Strom, Gesundheitsversorgung, Schulen, Sicherheit – alles Fehlanzeige. Rund 2.500 Geflüchtete sind dort in Containern und Zelten untergebracht. Sie kommen aus dem Sudan, dem Tschad, der Republik Kongo oder Kamerun, sind vor Gewalt und dem Tod geflohen. Eigentlich sollen sie hier nun Asyl und ein sicheres Leben erhalten – sitzen aber teilweise seit vier Jahren in dem Lager fest. „Man hat uns vergessen“, hört man von jeder zweiten. „Wir wollen ein menschenwürdiges Leben“, von der anderen Hälfte. Aber auch Aussagen wie: „Wir werden einer nach dem anderen sterben.“ Immer wieder eskaliert die Gewalt im Lager, wobei sich Sicherheitskräfte und Geflüchtete jeweils die Schuld zu schieben. Fakt ist: ein Sudanese kam letztes Jahr im Lager ums Leben, ein weiterer wurde durch Schüsse von Sicherheitsbeamten vor kurzem schwer verletzt.

Von der Not in der Not

Die mit der Ankunft von zehntausenden Migrant*innen und Flüchtenden verbundenen Herausforderungen, sie sind kaum zu stemmen für eine Stadt, der in den vergangen 30 Jahren zwei Mal ihre wirtschaftliche Lebensgrundlage entzogen wurden. Bis Anfang der 90er Jahre lebte die Stadt vom Tourismus. Es gab Charterflügen direkt von und nach Paris – bis der Terrorismus die Gegend unsicher machte. Nun wurden Migrat*innen zur wichtigsten Einnahmequelle. Ständig begegnet man in Agadez Männern, die früher Reisende nach Libyen oder Algerien gefahren haben. Völlig legal, bis das Gesetz 036-2015 dem ein abruptes Ende setzte. Viele Einwohner*innen wissen seither nicht mehr, wie es weitergehen soll. Davon zeugen etwa die vielen verfallen Häuser in der wunderschönen, von der UNESCO zum Weltkulturerbe ernannten Altstadt. Von den zehntausenden Migrant*innen fühlen sie sich überfordert, manchmal bedroht – vor allem aber mit der schwierigen Situation allein gelassen. Der Anstieg von Kriminalität und Drogenkonsum heizt die skeptische Stimmung gegenüber Migrant*innen weiter an.

Brot für die Welt fordert Unterstützung und Umdenken bei der Externalisierung

Klar ist: so kann es nicht weitergehen. Es braucht dringend mehr Geld, um die akute Notlage zu bekämpfen – aber auch, um eine Eskalation von Konflikten zu verhindern. Das Gegenteil ist derzeit der Fall: internationale Geber scheinen ihr Engagement im Bereich Migration in der Region zurückzuschrauben. Dabei tragen Deutschland und die EU eine politische Mitverantwortung für krisenhafte Entwicklung der letzten Jahre. Dieser Verantwortung müssen wir uns stellen und Zusagen für humanitäre Hilfe und Unterstützungsprogramme für Gestrandete in der Region schnell, längerfristig und deutlich aufstocken.

Zugleich müssen wir den Ansatz, Migrationsabwehr – und mittlerweile auch vermehrt Flüchtlingsschutz – in Drittländer auszulagern, grundsätzlich überdenken. Die menschlichen und gesellschaftlichen Verwerfungen dieser Strategie sind einfach zu hoch. Wer meint, die EU könne Asylverfahren in Drittländer verlegen, dem wird im Niger schnell klar: Das funktioniert nicht. Der Niger beherbergt schon über 300.000 Vertriebene aus den Nachbarstaaten. Ihm jetzt noch den Schutz und Anerkennungsverfahren für weitere Geflüchtete aufzubürden, übersteigt die Kapazitäten des armen Landes. Die Strategie schließlich, die Grenzen des Nigers Richtung Norden dicht zu machen, könnte sich für die EU als Bumerang erweisen. Indem wir lang etablierter Migrations- und Überlebensstrategien der Menschen in Westafrika torpedieren, legen wir den Grundstein für weitere wirtschaftliche und gesellschaftliche Verwerfungen in der Region. Stattdessen brauchen wir eine Politik, die ein Verständnis für regionale Migrationsdynamiken hat, und die endlich ernsthaft an legalen Migrationswegen nach Europa arbeitet.

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