Mit der Preisverleihung am Samstag feierte die Stiftung Dr. Roland Röhl ihr 25jähriges Bestehen und erinnerte an den 1997 verstorbenen Stifter, der am 9. März 68 Jahre alt geworden wäre. Die Veranstaltung fand im Deutschen Theater in Göttingen ihren feierlichen Rahmen. Die Jury hatte Prof. Hanne-Margret Birckenbach als Preisträgerin ausgewählt, weil sie in Forschung und Lehre, an den Universitäten Berlin, Bielefeldt und Gießen, und in diversen Instituten in Hamburg (IFSH) und Kiel (SCHIFF) grundlegende Arbeiten zu friedenspolitischen Fragen vorgelegt hat. Ihr wissenschaftliches Werk umfasst Beiträge zu ziviler Konfliktbearbeitung, Methoden der Friedensforschung, politologische und soziologische Analysen, sowie Studien zur Friedensbildung in der Ostsee-Region und zu internationalen Organisationen. Sie lieferte theoretische Begründungen für die Praxis und zugleich Impulse für die Friedensbewegun:g durch Vorträge und die Mitarbeit in Friedensgruppen und Zeitschriften. Schon in Studienzeiten hatte sie mit ihrem Lebensgefährten Christian Wellmann die Zeitschrift „antimilitarismus information“ gegründet, eine wichtige Brücke zwischen Wissenschaft und sozialen Bewegungen. "Frieden hat man nicht, man muss ihn machen" - dieses Motto stellte Hanne Birckenbach ihrer neuen Publikation "Friedenslogik verstehen" voran. In ihrer Rede am 11.3. erläuterte sie, was das bedeutet - auch vor dem Hintergrund eines Angriffskriegs, der nicht weit vor unserer Haustür tobt. Dr. Edelgard Bulmahn, Ex-Bildungsministerin und ehemalige Bundestagsvizepräsidentin, würdigte die Preisträgerin in einer sehr ausführlichen Laudatio.
Ist ein Friedenspreis aus der Zeit gefallen? Die Laudatio
"Einige von Ihnen werden sich vielleicht fragen, ob angesichts des verbrecherischen Überfalls Russlands auf die Ukraine eine Veranstaltung wie die heutige nicht aus der Zeit gefallen ist. Kann man angesichts eines Aggressors, der brutal und ohne Skrupel zivile Ziele angreift und für unzählige Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich ist, auf zivile Konfliktlösungsstrategien setzen?" So fragte Edelgard Bulmahn in ihrer Rede. (Wortlaut im Anhang zu diesem Blog) Das möge vielen zunächst als Anachronismus erscheinen. Aber Hoffnungslosigkeit und Resignation seien keine Alternativen. Dafür stehe das Wirken der Preisträgerin. Sie habe die Voraussetzungen für die Überwindung von Krieg und die Bedingungen des Friedens an konkreten Beispielen wie Kenia, Nordirland oder auch Äthiopien untersucht. Viele der weltweit beobachtbaren Konflikte, seien nicht nur durch Grenzstreitigkeiten, Hegemonialansprüche, extremistische Gewalt, religiös oder ethnopolitisch motivierte Konflikte sondern auch durch Streit um Ressourcen, Wasser und Land, oder durch den Ausschluss von politischer Teilhabe und fragile staatliche Strukturen geprägt. Es brauche Verhandlungsprozesse, friedensstiftende Initiativen der Zivilgesellschaft und flankierende Maßnahmen durch internationale Organisationen, um gewaltsamen Konfliktaustrag zu zivilisieren.
Den Krieg in der Ukraine deeskalieren
Auch der Krieg in der Ukraine könne nur durch das Zusammenwirken von politischen Akteuren, Diplomatie und Zivilgesellschaft überwunden werden, so Bulmahn. Kein Zweifel, es sei legitim, dass die Ukraine sich gegen Putins Truppen mit Waffen verteidige. Wie es auch legitim sei, die Ukraine in diesem Abwehrkampf mit Waffenlieferungen zu unterstützen. Das Selbstverteidigungsrecht angesichts eines Angriffskriegs stehe außer Frage. Aber "wer allein darauf setzt, mit Sanktionen und weiteren Waffenlieferungen an die Ukraine Putin zu Verhandlungen zwingen zu können, sollte bedenken, dass dies den Krieg weiter in die Länge zieht und mit der Dauer des Krieges die Brutalität des Agressors noch wachsen dürfte." Selbst dann, wenn gelingen sollte, die russischen Truppen aus dem Land zurückzudrängen, wäre noch kein Frieden erreicht, so Bulmahn. Der Vergleich mit der Niederwerfung des Dritten Reiches sei wenig überzeugend. Schließlich habe Deutschland bedingungslos kapituliert, was angesichts des Atomwaffenarsenals von Russland nicht zu erwarten sei. Und sie stellte die Frage "was (...) sollte Putin oder mögliche Nachfolger daran hindern, nach einem Abzug neue Kräfte zu sammeln, weiter aufzurüsten und einen neuen Versuch, die Ukraine zu unterwerfen, zu unternehmen?" Um dies zu verhindern solle sich der Westen gemeinsam mit Ländern wie Brasilien, Indien oder China darum bemühen, weitere Eskalation zu verhindern und den Krieg so rasch wie möglich in Verhandlungen zu überführen - mit dem Ziel einer dauerhaften Friedenslösung. Die Erarbeitung von Handlungsoptionen zur Deeskalation und Einstellung von Kampfhandlungen, die Auslotung von Möglichkeiten der Konfliktbearbeitung und Friedenssicherung und die Ausgestaltung einer Friedens- und Sicherheitsordnung bezeichnete Bulmahn (die im Jahr 2000 mit Bundesmitteln die "Deutsche Stiftung Friedensforschung" gründete) als "ureigene Aufgaben der Friedensforschung". Die Suche nach zivilen Konfliktlösungsstrategien sei "auch und gerade, weil momentan niemand sagen kann, wie der Krieg beendet werden kann und wie man zu Friedensverhandlungen kommen kann, nicht aus der Zeit gefallen." Sie zitierte Albert Einstein mit den Worten: "Frieden ist kein gegebener Zustand, sondern Ziel und Ergebnis gesellschaftlicher und politischer Gestaltung". Frieden müsse errungen und bewahrt werden. Er gründe sich auf Interessensausgleich, Vertrauensaufbau, die Sicherung fundamentaler Menschenrechte und Menschenwürde.
Friedenslogische Handlungsprinzipien - Die Rede der Preisträgerin
Hanne Birckenbach erläuterte in ihrer Rede (Wortlaut im Anhang zu diesem Blog) die "friedenslogischen Handlungsprinzipien" und Grundlagen für Frieden als Folge bewussten Handelns: "Wenn es gut läuft, dann nehmen direkte und indirekte Gewalt ab und Zusammenarbeit nimmt im Interesse der Existenzerhaltung zu." Dafür müssten Akteure aus Politik, Diplomatie und Gesellschaft in Verbindung stehen und "mit den je eigenen Zugängen die Kreisläufe von Gewalt und Gegengewalt unterbrechen." Das geschehe, wenn Kommunikation gelingt und wenn "widerstrebende Interessen in normenverträgliche Bahnen gelenkt werden." Oft führe das nicht zum "Ideal des Friedens", sondern "nur" zu mehr Frieden im Unfrieden. Das sei eine Daueraufgabe. Auch müsse man kontinuierlich darauf achten, dass "ein erreichter Frieden nicht an Unzufriedenheit zerbricht, und dass langfristig mehr Zufriedenheit entsteht." Dies könne nur mit zivigesellschaftlicher Beteiligung gelingen.
Die Ohnmacht überwinden
Der europäische Frieden, der in den 1990er Jahren erreicht wurde, sei mit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine zerfallen, so Birckenbach. Die Staaten, die die Ukraine unterstützen, sich militärisch und politisch gegen Russland zu verteidigen, führten hohe Werte an, wie die Verteidigung des Völkerrechts und der ukrainischen Staatlichkeit. Problematisch sei aber, dass einige westliche Staaten selbst hegemoniale Interessen verfolgten, die in Teilen der Welt nicht mehr akzeptiert würden. Vor diesem Hintergrund falle es auch FriedensforscherInnen gegenwärtig schwer, solide Aussagen darüber zu treffen, wie der Krieg friedensfördernd beendet werden kann. Es klaffe eine große Lücke zwischen den Konfliktanalysen und den daraus ableitbaren praktischen Handlungsschritten. Dennoch werde von FriedensforscherInnen erwartet, dass sie sich damit auseinandersetzen. Zivilgesellschaftliche Akteure hierzulande und andernorts seien auf der Suche nach Ansatzpunkten, um die so empfundene Ohnmacht zu überwinden. Daher sei es wichtig, Möglichkeiten - und Grenzen - zivilgesellschaftlichen Engagements auszuloten.
Friedenslogische Arbeitsfelder für Zivilgesellschaft
Zivilgesellschaftliche Akteure sollten den friedenspolitischen Diskurs in Gang halten, so lautet eine Empfehlung der Preisträgerin. Auf allen Seiten schrumpften Denk-, Dialog- und Kooperationsräume. Auch in der Ukraine und Russland gebe es friedensorientierte Menschen, die an den Narrativen ihrer Regierungen zweifeln. Forderungen nach Deeskalation und der Suche nach Verhandlungsmöglichkeiten stünden in Übereinstimmung mit der UN-Charta und mit den Resolutionen, die die UN-Generalversammlung zum Krieg gegen die Ukraine verabschiedet hat. Solange zivilgesellschaftliche Forderungen diesem Rahmen entsprächen, könnten sie internationale Bemühungen für eine Friedensentwicklung stützen. Wie diese konkret ausgestaltet werden müssen, könnten zivilgesellschaftliche Akteure jedoch nicht angeben, denn "dafür verfügen sie weder über die erforderlichen Informationen noch über die politischen Zugänge". Gleichwohl könnten sie mithelfen, "Oasen der Friedensentwicklung" zu entwerfen und auszuweiten. Die jüngste Resolution der UN-Generalversammlung fordere dazu auf, diplomatische Anstrengungen zu verdoppeln. Über geopolitische Konfliktpunkte könne zur Zeit nicht erfolgreich verhandelt werden und die Souveränität der Ukraine sei grundsätzlich nicht verhandelbar. Verhandlungen über humanitäre Korridore, Gefangenenaustausch, Getreidelieferungen hätten jedoch zu Ergebnissen geführt. Zudem verhandele die internationale Atomenergiebehörde über weitere Schutzzonen um Atomkraftwerke. Birckenbach verwies auf eine Initiative von DiplomatInnen aus dem Kreis der OSZE, die vorschlugen, "solche Oasen erfolgreichen Verhandelns auszuweiten und zum Beispiel auch Schulen, soziale Einrichtungen sowie Aussaat und Ernte auf diese Weise zu schützen". In anderen Gewaltkonflikten habe man erlebt, dass zivilgesellschaftliche Akteure gebraucht werden, damit solche Oasen zustandekommen, geschützt werden und mit Methoden des zivilen Peacekeeping abgesichert werden. Auch in der Ukraine gebe es Gruppen, die unterstützen könnten. Zudem erwähnte sie Dialoginiatitiven, die im Donbas(s) über die verfeindeten Linien hinweg Kontakte aufrechterhalten. Solche "lebensnahe Friedensarbeit", die geschützten Raum für Begegnung bieten, müsse man unbedingt weiterhin fördern.
Europazentrierte Sichtweisen überwinden
Weitere Herausforderungen liegen Hanne Birckenbach zufolge in der Notwendigkeit, europazentrierte Sichtweisen durch globale Perspektiven zu ersetzen. VertreterInnen westlicher Staaten machten aktuell die Erfahrung, dass sie die Zustimmung aus dem globalen Süden brauchen, um europäische Konfliktlinien zu befrieden, und sie würden mit der eigenen Glaubwürdigkeitslücke konfrontiert. "Politische Entscheidungen zur Abwehr der russischen Aggression" könnten weltweit nur dann an Zustimmung und Legitimität gewinnen, wenn sie mit globalen Verpflichtungen vereinbar sind": der Verpflichtung, den Waffenhandel zu beschränken, Ressourcen zu schonen und die 17 Ziele der Agenda 2030 umzusetzen. Um die Umsetzung globaler Verpflichtungen sicherzustellen, brauche es "multiperspektivische Friedensdialoge", die Stimmen aus dem globalen Süden einbeziehen.
Nach der Preisverleihung ist vor der Preisverleihung
Auch im kommenden Jahr wird der Göttinger Friedenspreis an Persönlichkeiten oder Initiativen vergeben, die in Forschung und Praxis herausragende Beiträge zu friedenspolitischen Themen leisten. Er ist mit 10.000 € dotiert. Die nächste Preisverleihung soll am Geburtstag des Stifters am 9. März 2024 in Göttingen stattfinden. Dafür nimmt die Stiftung Vorschläge zu geeigneten KandidatInnen entgegen, aus denen die Jury(Prof. Michael Brzoska, Dr. Ute Finckh-Krämer und Dr. Martina Fischer) jeweils den Preisträger / die Preisträgerin auswählen.
Bitte senden Sie Ihre Vorschläge mit einer kurzen Begründung an jury@goettinger-friedenspreis.de, oder an die Stiftung Dr. Roland Röhl, Jury, Neues Rathaus, 37070 Göttingen. Einsendeschluß ist jeweils der 31. Juli zur Preisverleihung im Folgejahr.