Wie viel Leid kann ein Mensch ertragen? Diese Frage brach sich in meinem Kopf immer wieder Bahn, als ich Mitte Oktober mit einer rund 30-köpfigen Delegation das polnisch-belarussische Grenzgebiete besuchte. Asylsuchende aus dem Irak, aus Afghanistan oder dem Kongo werden in den sumpfigen, unwirtlichen Wäldern der Grenzregion zu Opfern eines brutalen, geostrategischen Ping-Pong-Spiels. Über 40.000 Grenzgänger*innen habe man in den vergangenen beiden Jahren nach Belarus „umgeleitet“ (redirected), erklärt der Kommandant der Grenzschutzbeamt*innen von Białystok im Gespräch stolz – eine euphemistische Beschreibung der Praxis systematischer Pushbacks. Die meisten Asylsuchenden erleben gleich mehrere solcher Pushbacks. Denn auch auf der belarussischen Seite warten Sicherheitskräfte, von denen die Menschen mit Gewalt wieder an die polnische Grenze gedrängt werden. Sie sitzen in der Instrumentalisierungsfalle.
Diejenigen, die es letztendlich nach Polen schaffen, verstecken sich zum Großteil in den Wäldern. Täglich erreichen die Aktivist*innen der Grupa Granica Notrufe von Verletzen, Erschöpften und Hungernden. Und täglich gehen sie selbst in die Wälder, um die Untergetauchten medizinisch zu versorgen und mit Kleidung, trockenen Socken und Schuhen, Essen und Trinken einzudecken. Asyl beantragen wollen die meisten Geflüchteten in Polen nicht mehr. Zum einen, weil sie befürchten, vor der offiziellen Registrierung gepushbackt zu werden. Zum anderen, weil offiziell registrierte Asylsuchende in Polen sofort und unter menschenunwürdigen Bedingungen interniert werden, für bis zu zwei Jahren. Chancen, Asyl zugesprochen zu bekommen, bestehen für die allermeisten ohnehin nicht. Bei Iraker*innen und Somalier*innen liegt die Ablehnungsquote derzeit bei 98 und 99 Prozent.
Flucht: Die Instrumentalisierung der Instrumentalisierung
Klar ist: Russland und Belarus ermuntern Drittstaatsangehörige nach wie vor, über ihre Staatsgebiete an die EU-Außengrenze zu gelangen. Wie hoch die Zahlen sind, ist unbekannt, da die polnische Regierung den Zugang zur unmittelbaren Grenzregion vor blockiert. Mehr als 10.000 – 15.000 Asylsuchende dürften sich aber selbst zu Spitzenzeiten im Herbst 2021 nicht in Belarus aufgehalten haben. Trotz der relativ geringen Zahlen hat die polnische Regierung das Asylrecht an der dortigen Grenze weitgehend außer Kraft gesetzt - unter Berufung auf die Instrumentalisierung von Flüchtenden durch Russland und Belarus. Doch die von Polen getroffenen Maßnahmen ändern nichts an dieser Instrumentalisierung. Stattdessen vergrößern sie das Leid der Instrumentalisierten – und schaffen eine (Pseudo)-Legitimität dafür, diesem Leid mit nackter Gewalt zu begegnen, und solidarische Unterstützung wie die der Grupa Granica zu kriminalisieren.
Umgang mit Geflüchteten: Dem polnischen Beispiel folgen?
Die geplante Instrumentalisierungsverordnung (InstruVO) der EU folgt dem Pfad, den Länder wie Polen oder Griechenland vorgezeichnet haben. Sie sieht vor, dass Mitgliedsstaaten bei einer vermeintlichen Instrumentalisierung von Asylsuchenden durch drittstaatliche Akteure von grundlegenden Standards des europäischen Asylrechts abweichen, Pushbacks durchführen und die Internierungsbedingungen massiv verschlechtern können. In letzter Konsequenz ist der Rechtsstaat als Ganzes durch die InstruVO in Gefahr, da sie es erlaubt, rechtsstaatliche Prinzipien an den Außengrenzen willkürlich außer Kraft zu setzen. Dabei ist die Definition, was eine Instrumentalisierung darstellt, sehr weich und weit gefasst wird. Beispielsweise kann die Instrumentalisierung laut aktuellem Entwurf der Verordnung von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren ausgehen. Sowohl die konkrete Bedrohungslage („wesentliche Funktionen des Staates können [sic!] gefährdet werden“) als auch der Akt der Instrumentalisierung selbst (Förderung von Wanderbewegungen Richtung EU zum Ziel der Destabilisierung) bleiben sehr vage. Mitgliedsstaaten dürfte es so relativ leichtfallen, die Aktivierung der InstruVO für sich zu reklamieren.
Brot für die Welt fordert: Stoppt die InstruVO!
Die InstruVO wird das Leid an den EU-Außengrenzen vergrößern. Sie wird aber gerade nicht den Tatbestand der Instrumentalisierung beenden. Vielmehr spielt sie jenen Kräften in die Hände, die versuchen, die moralische Integrität der EU zu untergraben und Konflikte in der EU Asyl- und Migrationspolitik zu verstärken. Um die Gefahr einer Instrumentalisierung von Notleidenden durch Staaten wie Russland, Türkei oder Marokko zu verringern, sind gänzlich andere Schritte notwendig. Insbesondere muss sich die EU von einer Politik gegenüber Drittstaaten verabschieden, die Abschottung vor Flüchtenden und Migrant*innen zur obersten Priorität erklärt. Seit Jahren instrumentalisiert die EU ihre Außen-, Handels- und Entwicklungspolitik, um Drittstaaten zur Kooperation in Asyl- und Migrationsfragen zu drängen. Sie droht damit, Handelserleichterungen zu streichen, Entwicklungsprojekte einzustellen oder Visavergaben auszusetzen, falls eine solche Kooperation ausbleibt. Damit macht sich die EU letztendlich selbst verwundbar. Die Instrumentalisierung von Notleidenden, sie ist auch eine Reaktion auf die Instrumentalisierungspolitik der EU.
Hier müsste die vielbeschworene neue, menschenrechtsgeleitete deutsche Außenpolitik ansetzen und andere Wege gehen – beispielweise durch den Abschluss von tatsächlich partnerschaftlichen Migrationsabkommen mit Herkunfts- und Transitländern. Dublin-Rückführungen nach Polen sollte die Bundesregierung aussetzen, solange sich die Lage für Asylsuchende dort nicht grundlegend verbessert. Zugleich fordert Brot für die Welt, dass sich die Bundesregierung im EU-Rat mit Vehemenz gegen die InstruVO stellt. Die Konsequenzen deren Implementierung wären fatal – für Notleidende an den Außengrenzen ebenso wie für das vermeintliche Friedensprojekt Europa als Ganzes.
Nachwort: Der Text basiert zu großen Teilen auf den Eindrücken, die ich im Rahmen der 16. Europäischen Asylrechtskonferenzsammelte. Diese fand Mitte Oktober 2022 in Warschau statt und umfasste auch einen eintägigen Besuch an der polnisch-belarussischen Grenze. Organisiert wurde die Konferenz, an der rund 80 Expert*innen aus 15 Ländern teilnahmen. von Diakonie Deutschland, Churches‘ Commission for Migrants in Europe (CCME) sowie dem Ökumenischen Rat der Kirchen in Polen. Eine ausführliche Dokumentation der Konferenz findet sich auf den Seiten der Evangelischen Landeskirche in Baden.