Blog

Kolonialismus nach dem Kolonialismus

Südafrika zeigt beispielhaft, wie Neokolonialismus funktioniert: Die Apartheid wurde mit dem alten politischen Regime abgeschafft – doch Kapitalismus und die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Norden und von Weißen im Land blieben. In der Provinz Westkap arbeiten Nachkommen von Sklaven für die Nachkommen von Sklavenhaltern.

Von Boniface Mabanza Bambu*, Koordinator der KASA

Von Gastbeiträge Politik am
Demonstration gegen neokoloniale Strukturen am Rande des EU-Afrika-Gipfels 2015 in Brüssel

Demonstration gegen neokoloniale Strukturen am Rande des EU-Afrika-Gipfels 2015 in Brüssel

In meiner Position als Referent der Kirchlichen Arbeitsstelle Südliches Afrika (KASA) in der Werkstatt Ökonomie in Heidelberg gehört die Auseinandersetzung mit neokolonialen Beziehungen zur Natur der Arbeit. Die KASA wurde 1996 von Vertreter*innen christlicher und säkularer Organisationen und Institutionen gegründet, um in der „Post-Apartheidära“ eine Struktur zu schaffen, die das Erbe des Kolonialismus und der Apartheid in Südafrika und seinen Nachbarländern zur Sprache bringt und Handlungsoptionen für den deutschen beziehungsweise EU-Kontext sichtbar macht. Die Gründer*innen der KASA hatten die berechtigte Befürchtung, dass die Mobilisierungsfähigkeit der Anti-Apartheidbewegung mit dem Übergang des African National Congress (ANC) von einer Befreiungsbewegung zur Regierungspartei beeinträchtigt sein würde, da das Apartheidregime als sichtbarer Gegner formal nicht mehr existierte. Bilder von durch Polizeikugeln durchbohrten Körpern, die den Massakern von Sharpville 1961 oder dem Schüler*innenaufstand von Soweto zum Opfer fielen, bewegten Menschen weltweit. Mit der Abschaffung der politischen Apartheid schien diese direkte Gewalt überwunden zu sein. Die strukturelle Unterdrückung blieb aber intakt. Handels-, Rohstoff-, Schulden- und Finanzpolitik sind heute nicht weniger wirkmächtig. Ihre Auswirkungen sind sogar flächendeckender und prägen die Strukturen der kolonisierten Länder langfristiger. Dennoch erzeugen sie keine Sensationsbilder. Diese Erfahrung mussten auch andere Menschen des afrikanischen Kontinents machen, deren Länder in den 1960er und 1970er Jahren unabhängig wurden.

Südafrika bildet keine Ausnahme

Die formalen Unabhängigkeiten der 1960er und 1970er Jahre mündeten nur selten in faktischen Befreiungsprozessen. Vielmehr waren sie eine Neukonfiguration kolonialer Verhältnisse. Unter diesen Bedingungen ließen sich die Machtverhältnisse nur durch eine teils radikale Dekolonisierung verschieben. In einigen Fällen passierte jedoch das Gegenteil: Hatten einige Staaten nach der formalen Unabhängigkeit Land- und Bodenreformen durchgeführt, so machte die neokoloniale Durchdringung, die in der neoliberalen Wende ab Mitte der 1980er Jahre ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte, solche Errungenschaften wieder rückgängig.

Im Fall von Südafrika gingen der formellen Überwindung der Apartheid harte Verhandlungen voraus. Das Ergebnis war ein Kompromiss, wonach die ehemalige Befreiungsbewegung ANC die politische Macht durch freie Wahlen nach dem Prinzip „One man, one vote“ übernehmen würde – unter der Bedingung, dass die kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen im Wesentlichen unangetastet blieben. In Artikel 25 der Verfassung von 1996 wurde der Schutz von Privateigentum verankert, der es immer noch schwierig macht, eine Regel umzusetzen, die der südafrikanische Theologe Charles Villa-Vicencio wie folgt formuliert: „Zur Apartheid gehörte die planmäßige und systematische Verlagerung von Land und Ressourcen von Schwarz nach Weiß, und der Neuaufbau muss notwendigerweise ein gewisses Maß an Umverteilung des Wohlstands von Weiß nach Schwarz aufweisen.“ Vor dem Hintergrund dieser vorprogrammierten Ordnung in Südafrika und in anderen afrikanischen Ländern sind die hier gewählten Beispiele kolonialer Kontinuitäten zu verstehen, die zu den Schwerpunkten meiner Arbeit gehören.

Handelspolitik im Zeichen des kolonialen Erbes

Im Zentrum dieses Erbes steht die Art und Weise der Ein- und Zuordnung afrikanischer Länder in die kolonialwirtschaftliche Arbeitsteilung. In der Kolonialzeit wurden die meisten dieser Länder zu bloßen Lieferanten von oftmals nur ein paar wenigen mineralischen und/oder agrarischen Rohstoffen reduziert. Diese wurden in der Regel unverarbeitet in die sogenannten „Mutterländer“abtransportiert. Die Folge der einseitigen Ausrichtung der Ökonomien Afrikas auf ausländische Nutznießer*innen war, dass bei der Erlangung der politischen Unabhängigkeit sich die meisten Länder Afrikas mit überkommenen Wirtschafts- und Exportstrukturen konfrontiert sahen. Daraus resultierte eine enorme ökonomische Verwundbarkeit, die die formal unabhängigen Staaten in ein Dilemma brachte: Sie brauchten Kapital und Technologie, um ihre durch Kolonialismus deformierten Volkswirtschaften mittels Diversifizierung neu auszurichten. Um ihre Infrastrukturen zu verbessern, mussten sie verarbeitete Güter und Dienstleistungen importieren. Dafür waren Devisen nötig, für deren Gewinnung jedoch die Ausbeutung lokaler Ressourcen und deren Export fortgesetzt wurde, was die Abhängigkeitsstrukturen der Kolonialzeit stabilisierte. Aus diesen strukturellen Abhängigkeiten resultieren die Handelsabkommen der ehemaligen Kolonialmächte mit ihren ehemaligen Kolonien in Afrika, in der Karibik und im Pazifischen Raum von den Abkommen von Yaoundé über Lomé und Cotonou bis hin zu Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, die im Zentrum unserer Arbeit bei KASA heute stehen. Ihr Kern ist die Stabilisierung einer Praxis, die den EU-Ländern ermöglicht, Zugang zu den Rohstoffen aus Afrika zu bewahren und den Kontinent als Absatzmarkt für ihre verarbeiteten Produkte und zukünftig auch für ihre Dienstleistungen zu nutzen.  

Beispiel Landfrage

In meiner Arbeit habe ich mit Nichtregierungsorganisationen, sozialen Bewegungen und Gewerkschaften aus der südafrikanischen Provinz Westkap zu tun, die von Sklaverei-ähnlichen Bedingungen berichten. In einigen Fällen sind es tatsächlich Nachkommen von Versklavten, die bei Nachkommen von Plantagenbesitzern arbeiten. Letztere besitzen nach wie vor das Land, sie haben den Zugang zu Kapital, zu den nationalen, regionalen und internationalen Märkten, auf denen sie Wein, Ethanol, Gemüse und Früchte absetzen. Die Nachkommen der Versklavten und Zugewanderten in diese Region aus anderen Provinzen Südafrikas und aus Nachbarländern haben zum Überleben keine andere Wahl als sich in Lohnabhängigkeit in einem Umfeld zu begeben, wo sie aufgrund der Isolation allen möglichen Missbrauchsformen ausgesetzt sind. Von ähnlichen Erfahrungen höre ich in Namibia, wo der deutsche Genozid an den Ovaherero, Nama und San mit Vertreibung und Landraub einherging. 140 Jahre nach der Berliner Konferenz, 120 Jahre nach dem Vernichtungsbefehl Lothar von Trothas gegen die Ovaherero und 34 Jahre nach der formalen Unabhängigkeit Namibias besitzt die weiße Bevölkerung, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung bei acht Prozent liegt, rund 70 Prozent des Landes.

Beispiel Finanzsystem und Schuldenfrage

In meiner Arbeit mache ich die Erfahrung, dass koloniale Verhältnisse mitsamt ihrer Arbeitsteilung stabil bleiben, weil mit dem internationalen Finanzsystem etwas grundlegend falsch läuft. In diesem System befinden sich viele afrikanische Länder in einer prekären finanziellen Lage, insbesondere wenn es um Schulden und Entwicklungsfinanzierung geht. Dies bewegte im Juni 2024 die Staats- und Regierungschefs von Ghana, Kenia und Sambia – drei Länder, die von der Schuldenkrise stark betroffen sind – dazu, gemeinsam folgendes Statement zu veröffentlichen: „Es ist an der Zeit, ein ernsthaftes Gespräch über die hohen Kapitalkosten zu führen, die Afrika belasten und die auf ungerechten Risikoprämien und einer ungenauen Bewertung unserer Volkswirtschaften beruhen. Viele afrikanische Länder verfügen über Vermögenswerte, die in unseren Bilanzen nicht ausgewiesen sind. Wir müssen die afrikanischen Institutionen stärken, und wir erwarten, dass diese gestärkten Institutionen bei der korrekten Bewertung unserer Volkswirtschaften helfen und mit den internationalen Finanzinstitutionen zusammenarbeiten, um dies zu erreichen.“

Der Kolonialismus hat zwei Hinterlassenschaften, die in ihren Wechselwirkungen für die Länder Afrikas wie eine Zwangsjacke wirken: ökonomische Abhängigkeiten und die Definitionsmacht. Letztere sorgt dafür, dass sich die ehemaligen Kolonialmächte legitimiert sehen, über die als ihr Verlängerungsarm agierenden internationalen Institutionen festlegen zu dürfen, was afrikanische Länder brauchen und wie diese ihre politischen und ökonomischen Strukturen zu organisieren haben. Koloniale Ausbeutung machte viele Städte und Staaten in Europa reich. Neokoloniale Strukturen stabilisieren diese ausbeuterischen Strukturen. Eine ernst gemeinte Dekolonisierung muss die Erinnerung daran lebendig halten, deren Wirkmechanismen entlarven, Wege zu deren Überwindung aufzeigen und Reparationen einfordern. In meiner Arbeit versuche ich dies zu tun, indem ich im deutschen und EU-Kontext nicht nur Aufklärung und Advocacy-Arbeit leiste, sondern auch indem ich nach Möglichkeiten suche, die Stimmen der von kolonialen Verhältnissen direkt betroffenen Menschen aus verschiedenen Spektren hörbar zu machen.

 

*Boniface Mabanza Bambu ist Koordinator der Kirchlichen Arbeitsstelle Südliches Afrika (KASA) in der Werkstatt Ökonomie Heidelberg e. V. Bambu, in der DR Kongo geboren, promovierte an der Universität Münster zum Thema „Gerechtigkeit kann es nur für alle geben – Globalisierungskritik aus afrikanischer Perspektive“.

Dieser Beitrag erscheint anlässlich des 140. Jahrestages der Berliner Kolonialkonferenz, die vom 15. November 1884 bis zum 26. Februar 1885 stattfand. Bei der Konferenz teilten die Kolonialmächte den afrikanischen Kontinent unter sich auf und legten ihre Einflusssphären fest. Die Ergebnisse der Konferenz haben bis heute Auswirkungen auf die Lage in Afrika und internationale Politikprozesse insgesamt.

Jetzt spenden Unterstützen Sie uns

Kleinbäuerin Claudine Hashazinyange mit Avocados vom Baum ihres Schwiegervaters.

Hinweis: Die Spendenbeispiele sind symbolisch. Durch Ihre zweckungebundene Spende ermöglichen Sie uns dort zu helfen, wo es am dringendsten ist.

56 € (Spendenbeispiel) Mit 56 € kann zum Beispiel ein Hygiene-Paket für eine geflüchtete Familie finanziert werden.

100 € (Spendenbeispiel) Mit 100 € kann zum Beispiel Gemüse-Saatgut für die Bewirtschaftung von ca. 10 Feldern bereitgestellt werden.

148 € (Spendenbeispiel) Mit 148 € kann zum Beispiel ein Regenwassertank mit 2.000 Liter Fassungsvermögen gekauft werden.

Hinweis: Die Spendenbeispiele sind symbolisch. Durch Ihre zweckungebundene Spende ermöglichen Sie uns dort zu helfen, wo es am dringendsten ist.

56 € (Spendenbeispiel) Mit 56 € kann zum Beispiel ein Hygiene-Paket für eine geflüchtete Familie finanziert werden.

100 € (Spendenbeispiel) Mit 100 € kann zum Beispiel Gemüse-Saatgut für die Bewirtschaftung von ca. 10 Feldern bereitgestellt werden.

148 € (Spendenbeispiel) Mit 148 € kann zum Beispiel ein Regenwassertank mit 2.000 Liter Fassungsvermögen gekauft werden.

Bitte eine gültige Eingabe machen

Als Fördermitglied spenden Sie regelmäßig (z. B. monatlich)