Interview

Kolumbien – Schutzprogramme und Justiz. Was fehlt?

Trotz der Politik des "Totalen Friedens" der Regierung Petro, fehlen noch immer Garantien für die Menschenrechtsarbeit und effektive Schutzprogramme für lokale Menschenrechtsverteidiger*innen. Wir sprachen mit Astrid Torres, Koordinatorin des Schutzprogramms Somos Defensores in Kolumbien, Partner von Brot für die Welt und zu Gast in Berlin

Von Wolfgang Seiß am
Astrid Torres

Astrid Torres, Koordinatorin von Somos Defensores

Astrid, ein kurzer Rückblick auf Medellín, wo Du lange gearbeitet hast. Wie hat sich dort die Lage entwickelt?

Auf dem Stadtgebiet und dem Umland operierten 160 illegale Bandenstrukturen, die meisten davon integriert in zwei größere Organisationen, die „Oficina de Envigado“ und die „Autodefensas Gaitanistas de Colombia“ (AGC), paramilitaristische Gruppierungen. Nach Amtsantritt der Regierung Petro gab es Verhandlungen mit 16 größeren Gruppierungen, und anscheinend waren die Gewaltzahlen rückläufig.

Aber, Medellín ist eine sehr touristisch ausgerichtete Stadt, in der diese Strukturen legale und illegale Geschäfte betreiben, was auch eine ökonomische Bedeutung in der Stadt hat. Und natürlich haben sie die Formen der Gewalt verändert, damit Medellín für den Tourismus attraktiv bleibt. Das heißt, ein möglicher Rückgang der Gewalt ist eher veränderten Strategien dieser Gruppen zuzuschreiben, als einem aktiven Eingreifen des Staates.

Und diese Strukturen haben eine eigene Ordnung geschaffen, üben soziale und politische Kontrolle in den Stadtvierteln aus. Aus Angst vor diesen Gruppen zeigen viele Menschen gewalttätige Übergriffe und Bedrohungen nicht mehr an. Die Gewalt wandelt sich nun, wir haben viele Fälle von gewaltsamem Verschwinden-Lassen, Menschenhandel, Zwangsrekrutierungen und innerstädtischen Vertreibungen.

Nun bist Du seit Januar Koordinatorin von Somos Defensores, dem seit 25 Jahren existierenden Programm zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen und sozialen Führungspersönlichkeiten. Gerade diese sind in einem zunehmenden Maße an Gewalt ausgesetzt, die Opferzahlen sind gestiegen. Was sind für Dich die größten Herausforderungen?

Wir sprechen der Regierung nicht ihren guten Willen ab, die Aggressionen zu stoppen. Aber sie steht vor großen Herausforderungen: In der verbleibenen Amtszeit der Regierung muss sie den Prozess der Umsetzung von Garantien für die Menschenrechtsarbeit beschleunigen. Es muss endlich der „Runde Tisch für die Schaffung von Garantien“ eingerichtet werden, um zusammen mit der Zivilgesellschaft nach Lösungen zu suchen.

Dann muss das existierende staatliche Schutzprogramm geändert werden, auch in Kooperation mit der Zivilgesellschaft: Das Modell der Nationalen Schutzeinheit (UNP) bietet keinen wirklichen Schutz für soziale Führungspersönlichkeiten. Nicht vor den Risiken, denen sie ausgesetzt sind, da es sehr individuell ausgerichtet ist. Es erkennt nicht die Anstrengungen von lokalen, kollektiven Schutzsystemen an. Diese Systeme müssen Teil einer Neuaufstellung sein. Zudem muss dieses Jahr eine Menschenrechtspolitik, die Rechte für die Menschenrechtsarbeit beinhaltet, auf den Weg gebracht werden. Natürlich gibt auch das Urteil des Verfassungsgerichtes vom letzten Jahr angesichts der gravierenden Menschenrechtssituation die Richtung vor und verpflichtet die Regierung und andere Organe wie die Generalstaatsanwaltschaft dazu, Maßnahmen zu ergreifen. Und kurzfristig müssen im Verbund mit der Zivilgesellschaft Schritte zum unmittelbaren Schutz eingeleitet werden.

Du hast eben die Generalstaatsanwaltschaft angesprochen und auch die Notwendigkeit einer gemeinsamen Vision zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen (MRV) hingewiesen. Wie bewertest Du die Arbeit der Justiz zu diesem Thema?

Ein strukturelles Problem in Kolumbien ist das hohe Maß der Straflosigkeit gerade hinsichtlich der Verbrechen an MRV: Im Jahr 2022 hat das Programm Somos Defensores die Generalstaatsanwaltschaft um Auskunft ersucht, was die Ermittlungen im Fall von 1333 Morden an MRV zwischen 2002 und 2022 ergaben, die Mehrzahl davon wurde nach Abschluss des Friedensabkommens von 2016 begangen. Die Antwort war, dass in 45 Fällen Urteile gefällt worden sind. Eine journalistische Recherche ergab jedoch, dass es weitere 104 Urteile gab. Dies macht deutlich, dass die Staatsanwaltschaft nicht über eine konsolidierte Erfassung ihrer eigenen Arbeit verfügt. Aber das Hauptproblem ist, dass sie nicht ihrer verfassungsmäßigen Aufgabe gerecht wird, diese Morde zu untersuchen, geschweige denn andere Aggressionen.

Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, dass die Justiz der Flaschenhals ist: keine Ermittlungen, keine Urteile - nicht nur hinsichtlich der materiellen Täter, sondern auch gegen die Hintermänner - bedeutet, dass sich die Gewaltspirale weiterdreht. Denn dies ist eine Botschaft an die bewaffneten Akteure, dass sie weiterhin MRV bedrohen können, ohne Angst vor Konsequenzen.

Nach dem Friedensabkommen von 2016 wurde eine Sonderermittlungseinheit der Generalstaatsanwaltschaft gegründet. Eine ihrer Befugnisse ist es, bei Morden an MRV zu ermitteln. Die Resultate sind armselig. Das Verfassungsgericht stellte letztes Jahr auch fest, dass diese Einheit nicht die „Direktive 002“ (2017) anwendet: Diese besagt, dass bei Verbrechen an MRV immer von der Hypothese auszugehen sei, dass dies im Zusammenhang mit der Menschenrechtsarbeit geschah. Und dass spezielle Ermittlungen durchzuführen sind.

Gerade die Generalstaatsanwaltschaft hätte eine besondere Rolle, gegen die Strukturen zu ermitteln, die aus den Paramilitärs hervorgegangen sind. Denn es kann nicht nur die Aufgabe von Polizei und Militär sein, dagegen vorzugehen. Im Gegenteil, die Rolle von Staatsanwaltschaften ist eine besondere, da es ihr obliegt, finanzielle, politische und soziale Verwicklungen dieser Strukturen zu untersuchen und dagegen vorzugehen. Aber dies findet nicht statt.

Deutschland engagiert sich ja seit einigen Jahren im Friedensprozess: Was sollte sich Deutschland zum Thema Justiz stärker zu eigen machen?

Wir halten es für wichtig, dass die deutsche Regierung die Menschenrechtsbewegung in dieser Frage unterstützt und die Arbeit der Generalstaatsanwaltschaft beobachtet. Und dass sie auch genau verfolgt, was mit der Finanzierung von Polizeiprogrammen geschieht. Nach wie vor werden Menschenrechtsverletzungen auch durch die Polizei verübt. Ferner ist es wichtig, im Dialog mit der kolumbianischen Regierung auf Fortschritte bei der Politik der Bekämpfung dieser paramilitärischen Strukturen zu drängen, die kolumbianische Regierung aufzufordern, endlich den „Runden Tisch für die Schaffung von Garantien“ einzurichten, um sich mit der Zivilgesellschaft zusammenzusetzen und zu handeln.

In der restlichen Amtszeit der Regierung Petro halten wir es für wichtig, dass die deutsche Regierung sich für eine Änderung des Schutzmodells einsetzt. Hin zu einem Modell kollektiver Schutzmaßnahmen, die den Erfordernissen von MRV und sozialen Führungspersönlichkeiten entsprechen. Außerdem ist die Unterstützung des Konzeptes des “Totalen Friedens“ wichtig. Zugleich aber muss die Respektierung der Arbeit lokaler Führungspersönlichkeiten und MRV, Grundlage für die Aushandlung von Waffenstillstandsprozessen mit den bewaffneten Gruppen sein.

 

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