Herr Hoppe, die Halbzeitbilanz der SDGs, also der Nachhaltigkeitsziele der UN, brachte ein ernüchterndes Ergebnis. Nur 15 Prozent der Indikatoren sind auf Kurs und können bis 2030 umgesetzt werden. Ausgerechnet jetzt kürzt die Bundesregierung den Entwicklungsetat. Warum tut sie das?
Das tut sie nicht, um der Entwicklungszusammenarbeit zu schaden, sondern weil sie nicht an der Schuldenbremse rütteln will und gleichzeitig Steuererleichterungen beschlossen hat. Dann steht logischerweise insgesamt weniger Geld für den Bund zur Verfügung und jedem Ministerium mit Ausnahme des Ressorts des Verteidigungsministers Boris Pistorius wurden die Mittel gekürzt.
Ein Argument lautet: Die Corona-Pandemie hat die Bundesregierung zu vielen außerplanmäßigen Ausgaben gezwungen. Doch jetzt ist sie vorbei und die Bundesregierung muss im Bundeshaushalt zur Normalität zurückkehren. Was ist Ihr Eindruck?
Das mag für die Situation in Deutschland zutreffen, aber in den meisten Entwicklungsländern ist die Corona-Krise längst noch nicht vorbei. Die mittel- und langfristigen wirtschaftlichen Folgen sind enorm. Viele Entwicklungsländer haben sich aufgrund der Corona-Pandemie völlig überschuldet und leiden nun auch noch zusätzlich unter den hohen Energie- und Lebensmittelpreisen – eine Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Die Hungerzahlen sind extrem hoch. Wenn in dieser Lage die Entwicklungsländer weniger Unterstützung bekommen, werden Entwicklungserfolge zunichte gemacht und die Erreichung der SDGs rückt in noch weitere Ferne. Statt einfach pauschal allen Ministerien bis auf eines die Etats zu kürzen, hätte die Bundesregierung Prioritäten setzen müssen.
„400 Millionen mehr für Entwicklungszusammenarbeit“
Welche Forderungen haben Sie?
Brot für die Welt hat sich bereits sehr deutlich dafür ausgesprochen, dass die von der Bundesregierung geplanten Kürzungen des Entwicklungsetats und der Titel für Humanitäre Hilfe und Zivile Krisenprävention im Budget des Auswärtigen Amtes nicht realisiert werden. Darüber hinaus fordert Brot für die Welt zumindest moderate Aufwüchse in diesen Bereichen.
Was heißt das konkret?
Wir fordern im Vergleich zum Vorjahr 400 Millionen Euro mehr für den Etat des Entwicklungsministeriums. Die zusätzlichen Mittel sollen vor allem dem Kampf gegen den Hunger zugutekommen. Auch der Titel für Krisenreaktion und Wiederaufbau muss aufgestockt werden. Und die zivilgesellschaftlichen Organisationen einschließlich der kirchlichen Hilfswerke sollen zumindest so ausgestattet werden, dass Verluste aufgrund der Inflation kompensiert werden.
Was ist mit den anderen Ministerien?
Wir fordern mindestens 200 Millionen mehr fürs Auswärtige Amt, insbesondere für Humanitäre Hilfe und zivile Krisenprävention, sowie zehn Millionen für die beiden Fonds des Ministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Damit sollen strukturelle Maßnahmen und Modellprojekte gefördert werden, die der Stärkung des Rechts auf Nahrung und der Ernährungssouveränität der Entwicklungsländer dienen. Und wir fordern für 2024 mindestens eine Milliarde mehr für den Klimaschutz. Mindestens die Hälfte davon sollte den Entwicklungsländern für Anpassungsmaßnahmen sowie für die Kompensation von bereits entstandenen Schäden und Verlusten zugutekommen.
„Selbst jetzt, zur Hälfte der Legislatur, wäre noch viel zu holen“
Die Bundesregierung argumentiert, wegen der Schuldenbremse stehe für solche Steigerungen nicht genug Geld zur Verfügung. Gleichzeitig hält sie fest an Subventionen wie das Dienstwagenprivileg oder der Verzicht auf die Besteuerung von Kerosin. Wie passt das zusammen?
Gar nicht! Auch das Umweltbundesamt argumentiert immer wieder, dass durch rechtlich umsetzbare Streichungen besonders umweltschädlicher Subventionen innerhalb einer Legislaturperiode bis zu 30 Milliarden mehr Steuern eingenommen werden können. Selbst jetzt, zur Hälfte der Legislatur, wäre noch viel zu holen. Doch dazu ist der Finanzminister leider nicht bereit.
Für einen solchen Paradigmenwechsel bräuchte es die grundsätzliche Bereitschaft, kurzfristige Interessen hintanzustellen gegenüber einer langfristig angelegten Politik. Investitionen in die Entwicklung und Widerstandskraft gegen Klimaveränderungen gerade von Ländern im Globalen Süden sind auch Investitionen in unsere eigene Zukunft. Sie waren elf Jahre lang Mitglied des Deutschen Bundestags für Bündnis 90/Die Grünen. Warum tut sich die Politik mit einer solchen Perspektive so schwer?
Parteien schielen zu sehr auf Meinungsumfragen und fürchten bei Maßnahmen, die für die Bürgerinnen und Bürger Mehrkosten oder Einschränkungen nach sich ziehen, Stimmenverluste bei der nächsten Wahl – was ja nicht ganz unbegründet ist. Als ich noch Mitglied der Bundestagsfraktion war, wurde ich vor Wahlen von der Fraktionsspitze mal ermahnt, öffentlich bloß nicht das böse V-Wort zu benutzen, also Verzicht. Doch wenn wir nicht länger auf Kosten nachfolgender Generationen und der Menschen im Globalen Süden leben wollen, führt um die Änderung des Konsumverhaltens kein Weg vorbei. Das bedeutet auch Verzicht in gewissen Bereichen.
Warum scheut die Politik diese Debatte?
Zurzeit erleben wir, wie Populisten Stimmung selbst gegen unverbindliche Empfehlungen machen und so tun, als sollte gesetzlich geregelt werden, was wir noch essen oder wie oft wir eine Fernreise machen dürfen. Die kirchlichen Hilfswerke haben schon in den 70er-Jahren den Slogan ausgegeben: „Anders leben, damit andere überleben“. Aber sie hatten auch keine Wahlen zu fürchten. In der Politik braucht man Mut, zu seinen Überzeugungen zu stehen, auch wenn einem der Wind ins Gesicht bläst und man damit zunächst auf Ablehnung und Empörung stößt. Und es braucht die Bereitschaft und Fähigkeit, seinen Standpunkt gut zu erläutern, für die Notwendigkeit auch unbequemer Veränderungen zu werben, ohne sein Gegenüber zu bedrängen oder gar abzuwerten.
„Über den Bundeshaushalt entscheidet das Parlament“
Wie lassen sich Finanzminister Christian Lindner und Bundeskanzler Olaf Scholz überzeugen?
Das weiß ich auch nicht. Der Kanzler hat den von Lindner vorangetriebenen Kürzungen seinen Segen gegeben, aber in der SPD-Fraktion sind viele damit unzufrieden. In Deutschland entscheidet das Parlament über den Bundeshaushalt, nicht die Regierung. Die macht lediglich einen Vorschlag. Also geht es jetzt darum, die Bundestagsabgeordneten davon zu überzeugen, dass Kürzungen in den Bereichen Entwicklungszusammenarbeit und Humanitäre Hilfe unmoralisch und politisch unklug sind.
Was heißt das?
Sie sind unmoralisch, weil Kürzungen – insbesondere der Mittel für Humanitäre Hilfe – ganz konkret Menschenleben kosten würden. Das ist nicht übertrieben. Und sie sind politisch unklug, weil es dem Ansehen und der Glaubwürdigkeit Deutschlands im Globalen Süden, besonders in Afrika, schaden und anderen Playern wie China und Russland nutzen würde. Das könnte denjenigen zu denken geben, die für moralische Argumente – Solidarität, Nächstenliebe, auch dem fernen Nächsten gegenüber – nicht so empfänglich sind.
Woraus schöpfen Sie in einer solchen Lage Hoffnung und Zuversicht?
Im vergangenen Jahr ist es gelungen, durch intensive Lobbyarbeit und auch durch einen parteiübergreifenden Appell aller ehemaligen, noch lebenden und des zurzeit amtierenden Vorsitzenden des Entwicklungsausschusses des Deutschen Bundestages das Parlament zu überzeugen, dem Vorschlag des Kabinetts nicht zu folgen. Es hat dann zwar nicht mehr Geld gegeben, doch statt der vom Kabinett empfohlenen massiven Einschnitte gab es nur minimale Kürzungen. Ob das in diesem Jahr wieder gelingt, weiß ich nicht, aber es sollte erneut mit aller Kraft versucht werden.
Und Sie persönlich?
Ich schöpfe auch Kraft aus dem Glauben an einen Gott, der wie ein liebevoller Vater und eine liebevolle Mutter zu allen Menschen ist – der leidet, wenn sich Menschen mit Krieg überziehen, wenn Menschen die Lebensgrundlage entzogen wird und wenn wir damit fortfahren, diesen Planeten unbewohnbar zu machen. Dieser Gott will, dass wir uns als Brüder und Schwestern verstehen und gemeinsam seine Schöpfung in ihrer Vollständigkeit und Schönheit bewahren. Der Gedanke daran macht mir immer wieder Mut, mich mit dem, was in meinen Kräften steht, dafür einzusetzen.