Interview

Mexiko: Das Leiden der Familien Verschwundener

In Mexiko gelten 115.000 Menschen als verschwunden. Ihre Angehörigen durchleben unvorstellbares Leid. Um ihre Schicksale kümmert sich CEPAD, eine Partnerorganisation von Brot für die Welt, im Rahmen des Zivilen Friedensdienstes (ZFD). Anna Karolina Chimiak von CEPAD fordert im Interview mit Anne-Katrin Mellmann, dass das Problem sichtbarer gemacht wird.

Von Anne-Katrin Mellmann am
Ana Karolina Chimiak von CEPAD

Ana Karolina Chimiak von CEPAD

Sehr viele Menschen in Mexiko haben Angehörige, die verschwunden sind – entführt und ermordet von Kriminellen oder korrupten Sicherheitskräften, oft an geheimen Orten verscharrt, ohne Spuren zu hinterlassen. Wie gehen die Angehörigen mit ihrem Leid um?

Trotz des Schmerzes, den sie täglich durchleben, zeigen sie, dass sie nicht nur verletzliche Opfer sind. Die Angehörigen haben sich organisiert und spezialisiert auf juristische Themen, auf Forensik, Sicherheit oder Kommunikation. Sie haben Suchtrupps gebildet und arbeiten auf eigene Faust. Sie haben ihren Schmerz in Stärke verwandelt. Ohne sie und ihren unermüdlichen Kampf wären wir noch nicht so weit gekommen, etwa in der Gesetzgebung oder beim Aufbau von Einrichtungen, die auf Suche oder Identifizierung spezialisiert sind.

Warum verschwinden so viele Menschen und warum suchen staatliche Institutionen nicht nach ihnen?

Das Ausmaß hat viel mit der hohen Straflosigkeit zu tun. Einen Menschen verschwinden zu lassen, hat nach wie vor keine Auswirkungen für den Täter. Staatlicherseits kümmert sich niemand um die Aufklärung der Verbrechen und um Gerechtigkeit. Dadurch ist das Verschwinden quasi bedeutungslos. 

Ein weiterer Faktor ist die Organisierte Kriminalität: Seit 2006 der Drogenkrieg eskalierte [Präsident Calderón schickte Soldaten auf die Straßen, Anmerkung der Redaktion], stieg die Zahl der Menschenrechtsverletzungen erheblich und kriminelle Gruppen wurden gestärkt. Ihre Zahl wuchs. Gleichzeitig hatten sie mehr Konflikte untereinander, zum Beispiel kämpfen sie um Reviere für Menschen- und Drogenhandel.

Gehören die Menschen, die verschwinden, zu den kriminellen Banden oder sind es Zivilisten?

Es handelt sich um das gesamte gesellschaftliche Spektrum. Der Staat –  besonders in meinem Bundesstaat Jalisco – behauptet aber immer wieder, es handele sich bei den Opfern um Menschen, die in irgendeiner Weise Verbindungen zu den kriminellen Banden hatten. So werden die Opfer und auch ihre Angehörigen kriminalisiert. Wir bemühen uns unter anderem darum, diese Behauptung zu widerlegen, damit der Staat Verantwortung übernimmt und sich um die Suche nach den Verschwundenen kümmert. Denn in Wahrheit entführen Banden oft ganz normale Menschen, um deren Familien zu erpressen. Oder ein Journalist wird mundtot gemacht, weil er über einen korrupten Lokalpolitiker kritisch berichtet hat. Oder ein Bauer war nicht bereit, Schutzgeld zu zahlen.

Welche Rolle spielt der Staat?

In den vergangenen Jahren wurden einige Einrichtungen ins Leben gerufen, die auf das Problem spezialisiert sind: eine nationale Such-Kommission, lokale Such-Kommissionen. Es gibt auch mehr Dokumentationen und Protokolle. Einige Fortschritte sind zu verzeichnen, auch durch den Druck der Angehörigen. Es sind nach wie vor die Familien, die angesichts der Unfähigkeit der Behörden deren Aufgaben erledigen. Sie machen sich auf die Suche, finden versteckte Gräber und zeigen ihre Funde an, kümmern sich um die Exhumierung der Opfer und sammeln Informationen, die für die Ermittler wichtig sind. Dadurch setzen sie sich hohen Risiken aus. Einige von ihnen wurden wegen ihrer Aufklärungsarbeit ermordet. Der Staat kümmert sich weder um die Suche, noch um den Schutz vor einem solchen Verbrechen wie „Verschwindenlassen“, noch um den Schutz der Angehörigen, die seine Aufgaben erledigen.

Mexiko hat eine neue Präsidentin gewählt. Erwarten sie dadurch eine Verbesserung der Situation?

Claudia Sheinbaum wird die Politik ihres Vorgängers Andrés Manuel López Obrador fortsetzen. Sorge bereitet uns, dass sich der Dialog mit den Angehörigen der Verschwundenen nicht entwickelt. Bislang gab es nur Ankündigungen. Wir fürchten, dass es dabei bleibt. Einige Male wurde die dramatische Situation des Verschwindens von Menschen und die Krise der Ermittlungsarbeit zwar anerkannt, aber es resultierte nichts daraus. Der Staat übernimmt keine Verantwortung, redet das Problem klein.

Wie beschreiben sie die Krise der Ermittlungsarbeit?

In Mexiko gibt es etwa 52.000 Tote, die bislang nicht identifiziert wurden. Einige wurden in versteckten Gräbern gefunden. Sterbliche Überreste aus Leichenschauhäusern wurden einfach begraben, ohne die Identität der Toten geklärt zu haben. Besonders in Jalisco versuchen Banden zu verhindern, dass Ermordete gefunden und identifiziert werden. Eine Zeit lang haben sie ihre Opfer verbrannt, später in Säure aufgelöst oder in sehr viele kleine Teile zerstückelt und diese an unterschiedlichen Stellen verscharrt. Eine neue Methode, die wir beobachten, ist das Verbrennen in extrem heißen Öfen, wie sie für Ziegel verwendet werden. So bleiben keine Spuren.

Claudia Sheinbaum hat angekündigt, die gravierend schlechte Sicherheitslage in Mexiko bekämpfen zu wollen. Wie glaubwürdig ist das?

Ich habe große Zweifel. Wie soll die Gewalt eingedämmt werden, solange der Staat seine Verantwortung nicht anerkennt?

Was muss sich ändern, damit keine Menschen mehr verschwinden?

Als Erstes müsste die Straflosigkeit bekämpft werden. Auch die Korruption und die Verbindungen von Justiz und Organisierter Kriminalität. Mexiko ist berühmt dafür, Gesetzesinitiativen voranzutreiben oder internationale Abkommen zu unterschreiben, ohne sich um die Umsetzung zu kümmern. Entscheidend wird also sein, Gesetze anzuwenden. Außerdem muss der Staat die Rolle der Angehörigen und Familien anerkennen und mit ihnen zusammenarbeiten.

Wie kann Deutschland helfen?

Deutschland ist sehr präsent und unterstützt die Menschenrechtsarbeit. Ich hoffe, dass diese wichtige Unterstützung nicht nachlässt. Außerdem wünsche ich mir, dass nicht nur die Stimme unserer Regierung gehört wird, wenn es um die Sicherheitslage geht, sondern auch die der Opfer und der Zivilgesellschaft. Die Ermittlungsarbeit soll weiterhin unterstützt werden – nicht nur technisch, sondern auch das Engagement der Menschen. Das Problem muss international sichtbar gemacht werden – aus Opferperspektive. 

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