Ein Gespenst geht um in Deutschland, in Europa und der Welt – das Gespenst des Ich-zuerst. Es behauptet, wir könnten in Sicherheit und Wohlstand leben, wenn wir Mauern hochziehen und den größten Teil der Menschheit ignorieren – Menschen, die hungern oder in Armut leben, vor Krieg und Klimaschäden, Unterdrückung, Dürre oder Überschwemmung flüchten. Es schubst Schutzsuchende weg, hetzt gegen Andersdenkende und macht Menschen lächerlich, die sich für eine gerechte Welt einsetzen. Und es beginnt, die Politik vor sich herzutreiben. Zunehmend finden sich Versatzstücke seines Denkens nicht nur an den Rändern des politischen Spektrums. Weil das Geld knapp sei, sagen immer mehr Politiker*innen, könnten wir es uns nicht mehr leisten, „so viel“ an Bedürftige und Benachteiligte zu geben. Internationale Entwicklungszusammenarbeit? Sei eigentlich Luxus.
Die Instrumente haben wir längst
Diese Haltung ist eine Sackgasse. Die Ich-zuerst-was-kümmern-mich-die-Probleme-der-anderen-Tunnelperspektive blendet aus, dass sich eine globalisierte Welt nicht in arm und reich, gewalttätig und friedlich trennen lässt. Die beispiellosen Herausforderungen unserer Zeit, zunehmende Konflikte, Krisen, Klimaschäden und -katastrophen, werden durch ein engstirniges Denken befeuert. Langfristig eindämmen lassen sie sich nur durch eine umsichtige, globale Politik. Die ist möglich. Die Instrumente haben wir längst.
Die „Agenda 2030“ mit den globalen Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen, das Pariser Klimaschutzabkommen und die Menschenrechte weisen vielfältige Wege zu sozialer und ökologischer Gerechtigkeit, Frieden und Sicherheit. Diese Wege zu gehen wird nicht einfacher, wenn der mächtigste Mensch der Welt bald Donald Trump heißt, die Zahl autokratischer Regime weltweit zunimmt und in Deutschland Solidarität mit den Ärmsten in der Welt, Solidarität mit kriegerisch überfallenen Nachbarn und Solidarität mit den Benachteiligten in unserer eigenen Gesellschaft gegeneinander ausgespielt werden. Doch gerade deshalb braucht es mehr denn je die lauten Stimmen, die sich dem Entweder-Oder der großen Vereinfacher widersetzen. Die deutlich machen, dass Klimaschutz am einen Ende der Welt auch Klimaschutz für das andere Ende der Welt ist; dass Gerechtigkeit für die Metallbauerin in Wolfsburg und für den Minenarbeiter im peruanischen Hochland, faire Bedingungen für den Gemüsebetrieb im fränkischen Knoblauchsland und für die Kleinbäuer*innen im dürregeplagten Sambia sich nicht widersprechen, sondern einander bedingen. Dass es in unser aller Interesse ist, uns für beide Seiten einzusetzen.
Zivilgesellschaft stärken und schützen
Viel mehr noch als bisher müssen wir daher auch die Akteur*innen der Zivilgesellschaft stärken, die sich für globale Gerechtigkeit, für nachhaltige Entwicklung und für unteilbare Menschenrechte einsetzen. Die in so ziemlich allen Ländern für Demokratie und Menschenwürde eintreten und gegen Unrecht und Ungleichheit – obwohl sie dabei immer öfter diffamiert, angegriffen und kriminalisiert werden. Zivilgesellschaftliche Handlungsräume sind weltweit so eingeengt wie seit Jahrzehnten nicht mehr – und Menschenrechtsverletzungen nehmen zu. Entwicklungszusammenarbeit ist ein wichtiges Instrument, um diese Menschen und ihre Organisationen zu unterstützen – und manchmal auch ganz unmittelbar: zu schützen.
Noch nimmt Deutschland, als eines der reichsten Länder der Welt, in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit und bei der humanitären Hilfe eine führende Rolle ein. Das entspricht einem Selbstverständnis, wie globale Verantwortung wahrgenommen werden sollte, die nicht nur militärisch verteidigen kann, sondern auch zukunftssicher gestalten will. So hatte es sich die Bundesregierung 2023 in ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie vorgenommen. Die guten Gründe für diesen Befund sind 2024 unverändert gültig und werden es auch 2025 bleiben – gleich welches Gespenst uns das Gegenteil weismachen will.
Wir haben die Wahl: Rückzug oder Zukunft?
Sind wir also als reiches Industrieland weiterhin bereit, Verantwortung zu übernehmen? Werden wir ausreichend Geld in Gerechtigkeit und Gesundheit, saubere Energie und nachhaltige Landwirtschaft investieren? Wie laut, wie stark wollen wir uns für Menschenrechte international engagieren?
Wenn im Februar nächsten Jahres ein neuer Bundestag gewählt wird, hat Deutschland die Wahl, ob es den Beispielen mancher Länder folgen will, die im Rückzug ihr Heil suchen, oder ob es eine laute Stimme für die Gestaltung einer gemeinsamen globalen Zukunft sein will. Die Entscheidung sollte so schwer nicht sein.
Die Regierung der nächsten Legislaturperiode muss Entwicklungspolitik stark halten – finanziell und institutionell. Dabei muss die Förderung der Zivilgesellschaft eine zentrale Rolle spielen. Und das Ziel globaler Gerechtigkeit muss in allen Ministerien verankert und quer durch alle Politikfelder verfolgt werden. So kann Deutschland seiner Verantwortung in der internationalen Zusammenarbeit gerecht werden. Zum Wohl und Nutzen von uns allen.