Herr Monteiro, Brasilien ist einer der größten Erzeuger und Exporteure von Soja, Kaffee, Zucker, Fleisch oder Geflügel. Zugleich wurde Brasilien kürzlich wieder in die Welthungerkarte der Vereinten Nationen aufgenommen. Mehr als 100 Millionen Menschen leben in Ernährungsunsicherheit. Das sind 58 Prozent der Bevölkerung. Wie kann das sein?
Die Gründe reichen bis in die Kolonialzeit zurück. Brasilien funktioniert nach einem dualen Modell. Die industrielle Landwirtschaft arbeitet für den Export. Früher waren das vor allem Zuckerrohr und Kaffee. Heute fließen viele staatliche Investitionen in die Produktion vor allem von Soja, Fleisch und Zucker. Die bäuerliche Landwirtschaft dagegen war immer auf die Erzeugung von Nahrungsmitteln für den inländischen Eigenbedarf ausgerichtet, in der Regel Familienbetriebe. Diese kleinbäuerlichen Betriebe haben in der Vergangenheit keine Unterstützung vom Staat erhalten, um ihre Nahrungsmittelproduktion zu entwickeln und zu verbessern.
Wie haben sich die Bedingungen in der jüngeren Vergangenheit entwickelt?
Seit der Re-Demokratisierung des Landes in den frühen 80er-Jahren hat die brasilianische Gesellschaft verschiedene Rechte erkämpft. Vor allem die Regierung unter Luiz Inácio Lula da Silva hat in seiner Amtszeit die Lebensmittelproduktion gefördert und den Menschen in den Städten ein Einkommen garantiert, damit sie Zugang zu Lebensmitteln haben. Dadurch ist Brasilien 2014 von der Hungerkarte der Vereinten Nationen verschwunden. Doch dann gab es einen großen politischen Rückschlag durch einen Staatsstreich im Jahr 2016. Die damalige Präsidentin Dilma Vana Rousseff wurde aus dem Amt entfernt. 2019 kam mit Jair Bolsonaro die extreme Rechte an die Macht.
Was ist dann geschehen?
Demokratische Errungenschaften und Menschenrechte erlebten einen großen Rückschlag. Fast alle politischen Programme wurden abgebaut, einschließlich im Bereich der Ernährungssicherheit. Der Staat investierte nicht mehr, so dass sich die Lebensbedingungen verschlechterten und es zu einer Wirtschaftskrise kam. Die hatte steigende Lebensmittelpreise zur Folge, verstärkt durch die Pandemie. Die rechtsextreme Regierung war extrem rücksichtslos gegenüber der Bevölkerung. Die Zahl der Menschen, die sich in einer Hungersnot befanden, stieg im Jahr 2022 exponentiell an. 33 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer haben Hunger gelitten, die große Mehrheit von ihnen sind schwarze Frauen mit Familien und kleinen Kindern.
„Agrarökologie hat auch eine politische Komponente“
Sie versuchen mit Ihrer Organisation ASPTA, dieser Situation entgegenzuwirken. Wie genau?
Unsere Organisation führt lokale Entwicklungsprogramme mit bäuerlichen Familienbetrieben durch. Wir beraten bäuerliche Familienbetriebe, damit sie selbst die Vordenker des Wandels sind, der sich in ihrem Gebiet vollziehen soll. Wir treten ein für eine Politik zugunsten der ökologischen Landwirtschaft und der bäuerlichen Familienbetriebe.
Was bedeutet Agrarökologie?
Agrarökologie ist eine Landwirtschaft, die die Zyklen der Natur respektiert und das jeweilige Potenzial eines Ortes nutzt. Wir können die Agrarökologie auch als eine Reihe von Prinzipien verstehen, die mit dem Ziel einer nachhaltigen Landwirtschaft in den Regionen umgesetzt werden. Und drittens bedeutet Agrarökologie eine Bewegung, die die Rechte der Menschen auf dem Land verteidigen will, die freie Teilhabe und Mitbestimmung der Frauen verteidigt und sich gegen Rassismus und Ungleichheiten stellt. Für mich hat die Agrarökologie also auch eine politische Komponente: Nur eine gerechte Gesellschaft wird Fortschritte beim Aufbau einer wirklich nachhaltigen Landwirtschaft machen können.
Sie haben sich vorgenommen, bis 2025 einen Beitrag zu einer gerechten und ökologischen Umgestaltung der Lebensmittelproduktion zu leisten. Wie soll das gelingen?
Es handelt sich um ein Projekt, das von unserer Organisation ASPTA in Partnerschaft mit Brot für die Welt umgesetzt und vom deutschen Landwirtschaftsministerium finanziert wird. Wir werden in der riesigen brasilianischen Halbtrockenregion im Nordosten des Landes arbeiten, in zwölf einzelnen Gebieten, verteilt über sechs Bundesstaaten. Wir beobachten die Politik in diesen zwölf Gebieten und organisieren einen Prozess der politischen Lobbyarbeit, damit die Menschen ihre Interessen einbringen können. Wir wollen die öffentliche Politik zur Unterstützung der ländlichen Gemeinden in diesen Gebieten verbessern und ausweiten. Der Rat für Ernährungssicherheit ist dafür ein zentrales Gremium.
„Eine positive Erfahrung mit partizipativer Demokratie“
Welche Funktion hat dieser Ernährungsrat?
Seit 2003 gab es in Brasilien einen Nationalen Rat für Ernährungssicherheit namens CONSEA. Dieser Rat war für die Koordinierung aller Maßnahmen der Regierung zur Förderung der Ernährungssicherheit zuständig. Die Regierung von Bolsonaro schaffte ihn am ersten Tag ihrer Amtszeit ab. Die erneute Lula-Regierung hat den Rat 2023 wiederbelebt und wir arbeiten daran mit, ihn weiter zu stärken. Denn in ihm führen zivilgesellschaftliche Organisationen und Gruppen einen Dialog mit der Regierung, um die Bedingungen für Ernährungssicherheit zu bewerten, öffentliche Maßnahmen zu verbessern und neue vorzuschlagen. Solche Räte gibt es auch in jedem der 27 Bundesstaaten.
Und was können wir Deutschen von Ihrem Projekt lernen?
Wir haben in Brasilien eine sehr interessante Erfolgsbilanz bei der Förderung der Agrarökologie. Es gab einen signifikanten Anstieg von öffentlichen Programmen für landwirtschaftliche Familienbetriebe. Und unser System der gesellschaftlichen Teilhabe ist zwar alles andere als perfekt, aber eine sehr positive Erfahrung mit partizipativer Demokratie.
Das Projekt „Zukunft gestalten: Gerechte und agrarökologische Transformation der Ernährungssysteme in der semiariden Region des Nordosten Brasiliens“ von Brot für die Welt und der Partnerorganisation ASPTA wird gefördert vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages.