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Realität eines vermeintlich postkolonialen Afrikas

Kolonialisierung bedeutete nicht nur politische, sondern auch wirtschaftliche, kulturelle und spirituelle Herrschaft. Mission spielte dabei eine zentrale Rolle. Welches Erbe sie hinterließ und warum die Entwicklungszusammenarbeit ein Instrument der Kolonialität ist, wenn sie nicht bewusst dekolonial gestaltet wird.

Dr. Masiiwa Ragies Gunda*, Ökumenischer Rat der Kirchen

Von Gastbeiträge Politik am
Dr. Masiiwa Ragies Gunda

Dr. Masiiwa Ragies Gunda, Programmleiter für Maßnahmen zur Überwindung von Rassismus, Ökumenischer Rat der Kirchen, Genf

Ich bin ein Afrikaner, der kein typischer Afrikaner ist. Ich habe in Deutschland promoviert, arbeite derzeit für den Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) und lebe in Genf. Ich bin in den letzten zehn bis 15 Jahren um die Welt gereist und muss sagen, dass ich privilegiert bin. Die Erfahrungen, die ich durch mein Studium und meine Arbeit sammeln durfte, haben mir die Augen für Systeme geöffnet, die für die Mehrheit der Menschen weitgehend unsichtbar sind. Es sind Systeme, die auf den europäischen Kolonialismus und Imperialismus zurückgehen. Für mich als Afrikaner steht ein besonderes Treffen symbolisch für diese Ära: die Berliner Kolonialkonferenz 1884/1885. Auch wenn sich diese Konferenz zunächst auf das Kongobecken und Westafrika konzentrierte, wissen wir, dass sie den Auftakt bildete für die Zerlegung Afrikas in kleine Teile, die die europäischen Kolonial- und Imperialmächte unter sich aufteilten.

In meiner Arbeit mit dem ÖRK, besonders seit der 11. Vollversammlung des ÖRK in Karlsruhe im Jahr 2022, führen wir Konsultationen und Diskussionen, die sich auf die Dekolonialisierung konzentrieren. In diesen Gesprächen taucht der Begriff Kolonialität immer wieder auf, um die anhaltenden Auswirkungen der formalen Kolonialisierung verschiedener Völker und Länder durch europäische und andere Mächte zu benennen. Vereinfacht ausgedrückt bezieht sich Kolonialität auf das Fortbestehen kolonialer Strukturen in Zeiten, die als postkolonial gelten – durch multilaterale Gremien wie die Vereinten Nationen, Weltbank, Internationaler Währungsfonds, durch Epistemologien (ökonomisches, politisches, theologisches, medizinisches Wissen) sowie Rahmenbedingungen und Systeme wie die Welthandelsorganisation oder die G7, in denen wenige Mitglieder die Mehrheit beherrschen oder ihre Vetomacht nutzen, um demokratische Prozesse auszuhöhlen. Anzuerkennen, dass es Kolonialität gibt, scheint jedoch aus mehreren Gründen schwierig:
 

  1. Manche Menschen behandeln die Kolonialisierung als eine bloß formale Periode der Fremdherrschaft.
  2. Manche Menschen assoziieren Kolonialisierung nur mit politischen Aktionen.
  3. Einige Menschen verbinden die Kolonialisierung nicht mit kultureller, epistemologischer, spiritueller und ökologischer Beherrschung und sind daher der Ansicht, dass diese seit dem Ende der formellen politischen Beherrschung der afrikanischen Länder durch die europäischen Länder beendet ist.

Kolonialisierung wirkt weiterhin

Doch etliche Studien zeigen, dass diese Ansichten weit von der Wahrheit entfernt sind. Tatsächlich hat die Kolonialisierung nur ihre schwächste Form der Macht aufgegeben, nämlich die politische Herrschaft. Kolonialisierung bedeutet aber auch:
 

  1. die wirtschaftliche Beherrschung von ressourcenreichen Gebieten für den europäischen Konsum;
  2. den erkenntnistheoretischen Völkermord (Epistemizid) an außereuropäischen Wissensformen und Wissensweisen – indigene Bildungssysteme wurden delegitimiert und das europäische Bildungssystem propagiert, sei es in der säkularen oder religiösen Bildung;
  3. die kulturelle Beherrschung von Völkern auf der ganzen Welt durch Auferlegung der weißen oder europäischen Kultur, die alle indigenen Lebensweisen beschämte und gleichzeitig europäische Lebensweisen als fortschrittlicher propagierte.

Die rechtliche und politische Beherrschung lieferte Instrumente, die die oben genannte, weitaus einschneidendere Beherrschung durchsetzbar machten. Die politische Führung war das Gesicht der Kolonialisierung, indem sie immer wieder öffentlich auftrat, Erklärungen abgab und die kolonialen Gebiete vertrat – doch sie war nicht das Äquivalent der Kolonialisierung. Die umfasste auch Wirtschaft, Wissensproduktion und Kultur.

Bis heute dient die afrikanische Wirtschaft der Welt als Lieferant von Rohstoffen oder billigen Materialien, die in den Industrien Europas, Nordamerikas und jetzt auch Asiens benötigt werden. Die afrikanischen Wissenschaften kämpfen um ihre Anerkennung in einer Welt, die weiterhin von der Vorrangstellung der europäischen Wissenschaften ausgeht. Die afrikanische Kultur wird nach wie vor verhöhnt und missachtet, was viele Afrikaner*innen in eine lähmende Identitätskrise stürzt. Konzepte der weißen Vorherrschaft und des Weißseins wurden in einheimische Kulturen und Sprachen übernommen und machen Kolonialität zu einer Realität im täglichen Leben in Afrika.

Deutschlands Rolle in der (De)Kolonialisierung

Die deutsche Regierung verlor nach dem Ersten Weltkrieg die Kontrolle über ihre afrikanischen Kolonien, doch blieben deutsche Fabriken und deutsche Missionswerke – sowohl römisch-katholische als auch protestantische – fest in koloniale Projekte eingebunden, auch in Einflussgebieten anderer Mächte. Deutschland profitierte auch ohne Kolonien von der Kolonialisierung, indem es Handel trieb und seine Formen von Wissen, Kultur und Industrie verbreitete.

In der dekolonialen Ära hat es Deutschland lange versäumt, die Gräueltaten der Kolonialzeit anzuerkennen, oder hat sie nur halbherzig anerkannt. Diese Versäumnis ist ein Schandfleck. Die Reaktionen auf den Völkermord an den Herero in Namibia sind ein Beispiel dafür. Im Gegensatz zu anderen Reaktionen auf historisches Unrecht haben die deutsche Regierung und die Kirchen nicht immer entschlossen auf den Völkermord an den Herero reagiert.

Zudem ist Deutschlands heutige Verstrickung in die Kolonialität weitreichend: Sein Anteil an der Weltwirtschaft ist groß und seine Industrien sind weiterhin auf Rohstoffe aus Afrika angewiesen – während Afrikaner*innen von deutschen Unternehmen hergestellte Produkte konsumieren. Zudem ist Deutschland einer der wichtigsten globalen Akteure im Bildungssektor, das Land der Ideen ist bevorzugtes Ziel für Studierende, die westliche Erkenntnisse in Bereichen wie Ingenieurwesen, Medizin, Informatik und Theologie anstreben.

Entwicklungszusammenarbeit und (De)Kolonialisierung

Ebenso baut die internationale Entwicklungszusammenarbeit konsequent auf dem Erbe der Kolonialisierung auf. Staatliche Mittel werden eingesetzt, um Entwicklungsbedürfnisse von Gemeinschaften in Afrika in einer Weise zu unterstützen oder zu befriedigen, die den kolonialen Rahmen des „weißen Rettertums“ verstärkt. Die Weißen werden zumeist als Retter der Afrikaner*innen oder anderer Menschen aus dem Globalen Süden dargestellt.

Bis heute werden missionarische Aktivitäten vor allem auf ihre nachhaltigen positiven Beiträge hin bewertet (und davon gibt es viele), aber sie tragen auch eine Mitschuld: Sie haben die koloniale Entmenschlichung der Afrikaner*innen, der afrikanischen Kultur und der afrikanischen Spiritualität unterstützt. Die Rolle der Missionierenden war eine zwiespältige. Manche waren Agenten der Kolonialisierung, andere wurden zu Verbündeten des indigenen Widerstands gegen die Kolonialisierung. Die Missionsgesellschaften spielten eine zentrale Rolle bei der Einrichtung von Schulen, Kliniken und Krankenhäusern, die vor allem Afrikaner*innen dienten. Doch trugen diese Schulen auch zur Zerstörung indigener Wissenssysteme bei. Kliniken und Krankenhäuser öffneten Afrikaner*innen einen Zugang zu Gesundheitsdiensten, doch hatten sie zugleich Anteil an der Verdrängung indigenen medizinischen Wissens und indigener Praktiken. Kurzum: Kirchen und Missionsgesellschaften waren Plattformen, auf denen Kolonialität und Dekolonialität ständig in kreativer Spannung standen.

Die Beziehungen zwischen Kirche und Staat sind immer noch heikel. Kirchen, Missionswerke und spezialisierte Dienste wägen ab, ob sie blindlings ihre heimischen Regierungen unterstützen oder auf ihre Partner*innen im Globalen Süden hören sollten, wenn es um die Bedürfnisse von Gemeinschaften geht, die unter ungerechten Wirtschaftssystemen leiden, die zu Konflikten, klimabedingter Armut und Katastrophen beitragen.

Wenn die Entwicklungszusammenarbeit aller Akteure nicht bewusst dekolonial gestaltet wird, besteht die Gefahr, dass sie ein Instrument der Kolonialität bleibt: Statt Gleichheit und Gerechtigkeit zu fördern, wird sie die durch die koloniale Logik geschaffenen Asymmetrien aufrechterhalten. Deutschland kann mehr tun. Deutschland kann es besser machen. Weil Deutschland sich entscheiden kann zuzuhören und zu dekolonisieren!

 

*Dr. Masiiwa Ragies Gunda, Ökumenischer Rat der Kirchen, Genf, ist dort Programmleiter für Maßnahmen zur Überwindung von Rassismus. Er ist zudem apl. Professor am Ökumenischen Institut in Bossey und war als Berater für verschiedene Organisationen tätig. Masiiwa studierte Religionswissenschaften an der University of Zimbabwe und promovierte in Philosophie an der Universität Bayreuth in Deutschland.

Dieser Beitrag erscheint anlässlich des 140. Jahrestages der Berliner Kolonialkonferenz, die vom 15. November 1884 bis zum 26. Februar 1885 stattfand. Bei der Konferenz teilten die Kolonialmächte den afrikanischen Kontinent unter sich auf und legten ihre Einflusssphären fest. Die Ergebnisse der Konferenz haben bis heute Auswirkungen auf die Lage in Afrika und internationale Politikprozesse insgesamt.

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