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San Fernando – letzte Ausfahrt: Das Übel mit der Justiz in Mexiko

Die Straflosigkeit und Verfolgung Unschuldiger durch die mexikanische Justiz fand im Vorfeld der mexikanischen Präsidentschaftswahlen vom 2. Juni kaum Beachtung. Auf einen besonders krassen Fall wurde Mitte Mai in Mexiko-Stadt aufmerksam gemacht. Betroffen sind auch Vertreterinnen von Partnerorganisationen von Brot für die Welt.

Von Wolfgang Seiß am
Veranstaltung zur Akte 221

Engagierte Menschenrechtsverteidigerinnen bei einer Pressekonferenz in Mexiko-Stadt im Mai 2024

Den Bock zum Gärtner gemacht – das mexikanische Justizsystem

Marcela Turati, Journalistin, Ana Lorena Delgadillo, Anwältin, und Mercedes Doretti, Forensikerin, waren maßgeblich an der Aufdeckung und dem Versuch einer juristischen Aufarbeitung mehrerer Massaker an Migrant*innen in den Jahren 2010 und 2011 beteiligt. Daraufhin ermittelte die mexikanische Staatsanwaltschaft gegen die drei Frauen wegen Mitgliedschaft in einer krimineller Vereinigung und der Beteiligung an Entführungen.Diese Vorwürfe ermöglichen es der Justiz in Mexiko, Menschen ohne weitere Beweise in die „offizielle Untersuchungshaft“ zu nehmen. Auch im Jahr 2024 sind die Ermittlungsakten gegen die drei Frauen nicht geschlossen.

Marcela Turati hat seit vielen Jahren durch ihre journalistische Arbeit, durch Artikel und Reportagen ihrer Organisation Quinto Elemento Lab und die Webseite „Adonde van los Desparecidos“ („Wo sind die Verschwundenen“) dazu beigetragen, das Thema Verschwundene in Mexiko mit über 100.000 Fällen publik zu machen.

Ana Lorena Delgadillo, Direktorin der Partnerorganisation Stiftung für Justiz und einen Rechtsstaat (Fundación para la Justicia y un Estado de Derecho), verteidigte die Familienangehörigen, die wissen wollten, was mit ihren Angehörigen geschah, wer die Schuldigen sind.

Mercedes Doretti, forensische Anthropologin des Equipo Argentino EAAF, die in vielen Ländern auf Bitten von Familienangehörigen als unabhängige Expertin forensische Untersuchungen durchführte, begleitete auch im Fall von San Fernando die Familienangehörigen und untersuchte die Exhumierungen.

Amnesty International initiierte Mitte Mai eine Kampagne mit dem Ziel, dass die Ermittlungen gegen die drei Frauen eingestellt, ihre persönlichen Daten gelöscht und Garantien für ihre Sicherheit gegeben werden.

Bei der Pressekonferenz machten Sprecher*innen deutlich, dass man angesichts von vielen Fällen wie diesem nicht nur von einer „Krise“ im mexikanischen Rechtssystem sprechen kann. Seit Jahrzehnten gebe es tausende unaufgeklärte Fälle.

Justizreform - Fehlanzeige

Die renommierte mexikanische Journalistin Carmen Aristegui rief in Erinnerung, dass nach der Wahl 2018 von López Obrador zum Präsidenten Mexikos die Chance auf einen Neuanfang bestanden hätte. Verschiedene Persönlichkeiten und Organisationen hatten einen Vorschlag für eine Übergangsjustiz unterbreitet. Die Regierung AMLO beschritt einen anderen Weg: Nicht die Justiz wurde reformiert, sondern eine Nationalgarde aufgebaut und das Militär weiterhin damit beauftragt, für die interne Sicherheit zu sorgen.

Das Massaker von San Fernando

Ab 2011 wurden in San Fernando im Bundesstaat Tamaulipas Massengräber mit Leichen von Migrant*innen, in der Mehrzahl aus Zentralamerika gefunden. Nach der Zählung von 193 Kadavern stellten die Behörden die weitere Suche ein. Sie beschuldigten Mitglieder der Organisierten Kriminalität als Täter; eine mögliche Vertuschung durch die Behörden und die Landespolizei des Bundesstaates wurde nicht untersucht. Marcela Turati, die damals über die Ereignisse in der Zeitschrift Proceso berichtete, veröffentlichte 2023 ein Buch, „San Fernando: Letzte Haltestelle. Eine Reise zum autorisierten Verbrechen in Tamaulipas“. Darin schildert sie auch ihre eigene emotionale Belastung durch die Recherchen.

Die öffentliche und publizistische Begleitung des Falles von San Fernando wurde dann 2014 durch das gewaltsame Verschwindenlassen der 43 Lehramtsstudenten von Ayotzinapa überschattet, bis heute ebenfalls nicht aufgeklärt.

Die Akte 221 – juristische Ermittlungen gegen Menschenrechtsverteidiger*innen

Die Staatsanwaltschaft reagierte zögerlich und blockierte immer wieder die vollständige Herausgabe der umfangreichen Ermittlungsakten an die juristische Vertretung der Familienangehörigen. Ana Lorena Delgadillo und die FJEDD bekamen erst Akteneinsicht, nachdem ein Urteil des Obersten Gerichtshofes auf Aktenherausgabe erging.

Und im Jahr 2020 fand das Team der FJEDD in den Akten der Staatsanwaltschaft die Akte 221: Darin wurde detailliertdokumentiert, dass die Staatsanwaltschaft bzw. deren Ermittlungseinheit zu Verbrechen der organisierten Kriminalität (SEIDO, heute FEMDO) im Kontext der 193 ermordeten Migrant*innen, auch Ermittlungen gegen die drei Frauen Turati, Delgadillo und Doretti aufgenommen hatte. Die Akte machte den Umfang der Überwachung deutlich, enthält persönliche Daten, Listen von Telefonkontakten und –verläufe, Nutzung der Spionagesoftware, Geolokalisation der Aufenthaltsorte. Die Artikel von Marcela Turati in den Ermittlungsakten wurden als „Beweise“ für die Verleumdung der Ermittlungsbehörden dokumentiert.

Einstellung der Ermittlungen - Fehlanzeige

Ende 2021 veröffentlichten die drei Frauen auf einer Pressekonferenz den Fall der Akte 221: Sie beschrieben auch die unternommenen Schritte, die Behörden dazu zu bewegen, diese Akte zu schließen und die persönlichen Daten zu löschen. Bis heute ist dies nicht geschehen. Die Regierung stellt sich auf den Standpunkt, dass die Vorgängerregierung unter Pena Nieto dafür verantwortlich war.

Die Sonderstaatsanwaltschaft für Menschenrechte, zuständig für den Fall San Fernando, hält nach wie vor die Ermittlungsakte der Untersuchungen gegen die drei Frauen offen. Es gibt keine Untersuchungen gegen staatliche Funktionäre wegen illegalen (Telefon-)Überwachungen. Die Mehrzahl der Funktionäre ist nach wie vor im Amt. Die nach wie vor offene Ermittlungsakte bietet die Gewähr für die Straffreiheit.

Damit wird eine Botschaft deutlich: Wer die staatlichen Ermittlungsinstanzen, deren Unwillen oder Unvermögen zur Aufklärung, ja der illegalen Verfolgung der Kritiker anprangert oder auch „nur“ die Opfer rechtlich vertritt, kommt ins Visier eben dieser staatlichen Instanzen und wird einer Verfolgung ausgesetzt.

Laut Carmen Aristegui ist und bleibt es eine riesige Herausforderung, dass die Staatsanwaltschaften effektiv ihre Arbeit machen. Und weiter, wer zugleich erwarten würde, dass diese Staatsanwaltschaften den Willen haben, die Straflosigkeit von 98% zu beenden, unterläge einer Illusion. Es sei nötig, sich innerhalb und außerhalb Mexikos lautstark für eine spezielle Übergangsjustiz einzusetzen.

In der zu Ende gehenden Regierungszeit von Präsident Lopez Obrador spielte das Thema Menschenrechte insgesamt keine wichtige Rolle. Und auch im Wahlkampf zu den Präsidentschaftswahlen spielen Menschenrechte keine Rolle, ebenso wenig die desolate Lage der Justiz. Die neue Regierung steht vor einer großen Herausforderung.

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