In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 erlebten und erlitten Jüdinnen und Juden in vielen Orten und Städten Deutschlands ein Pogrom. Es war nicht das erste von unzähligen Pogromen auf deutschem Boden. Bereits 1096 fanden im Rahmen des ersten Kreuzzuges Pogrome in Speyer, Worms und Mainz statt. Beim erklärten Ziel der Kreuzfahrer, das Heilige Land von den „Ungläubigen“ zu befreien, wandte man sich zuerst gegen die auch als „ungläubig“ verstandenen Jüdinnen und Juden im eigenen Land – nicht zuletzt, um an ihren Besitz zu gelangen und den Kreuzzug auch so zu finanzieren.
Christentum und Judenhass, das ist eine lange, tief in die christliche Tradition eingeschriebene Verbindung. Dass die evangelischen Kirchen in Deutschland so wenig Widerstand gegen den Nationalsozialismus entwickeln konnten, sondern aktiv das Regime unterstützten und dass nur so wenige Christinnen und Christen den Jüdinnen und Juden beistanden, hat tiefe Wurzeln. Bereits 170 n. Chr. findet sich in der Osterpredigt des Bischofs Melito von Sardes der Vorwurf des Gottesmordes gegenüber unseren jüdischen Glaubensgeschwistern. Seither hat die Farbe des Antisemitismus die christliche Tradition begleitet. Die Tradition zu verändern und neu und anders zu schreiben, bleibt eine ständige und schwierige Aufgabe und ist zugleich unverzichtbar: Denn Antisemitismus ist Gotteslästerung.
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten in Deutschland viele Synagogen. Die Torarollen, Gottes Wort, wurden auf die Straßen herausgezerrt und mit Stiefeln zertreten. Geschäfte wurden geplündert, jüdische Menschen geschlagen, gequält, deportiert und ermordet. Was sich bereits seit 1933, der Machtübernahme – oder besser wohl der Machtübergabe – an die Nationalsozialisten abzeichnete, wurde in einem geplanten Gewaltausbruch manifestiert.
Passive Sprache verschleiert die Täterinnen und Täter
Auch die Synagoge in meiner kleinen Heimatsstadt in Ostfriesland brannte – und viele der männlichen Juden wurden zunächst in das Schlachthaus in das nahe gelegene Leer gebracht, schwer misshandelt und dann in das Konzentrationslager Sachsenhausen bei Oranienburg deportiert. Seit einer Begegnungswoche mit den jüdischen Überlebenden und ihren Kindern und Kindeskindern im Jahr 1988 sind für mich die in unserem Wohnzimmer erzählten Geschichten zu Gesichtern geworden.
Ich habe in den vergangenen Jahren viele Gedenkveranstaltungen zum 9. November besucht und stelle fest, dass mir die Sprache nicht allein durch ihre Formelhaftigkeit häufig Unbehagen bereitet. Denn die Sprache bleibt meist durchgehend im Duktus des auch hier zunächst verwendeten Passivs. Aber zu dem Passiv „im Nationalsozialismus wurden jüdische Menschen ermordet“ und „jüdische Menschen wurden gequält“ gibt es eben immer auch ein Aktiv – Menschen ermordeten, Menschen quälten – oder genauer gesagt: Deutsche ermordeten, Deutsche quälten. Und viele Deutsche standen daneben – taten nichts und schauten aktiv weg.
Durch die Begegnungen im Jahr 1988 und seither entstandenen familiären Freundschaften weiß ich um viele Schicksale jüdischer Menschen aus meiner Heimatstadt. Nur durch einen Zufall habe ich vor einigen Jahren entdeckt, dass Bernhard Kuiper, der Architekt der Emslandlager und des „Modelllagers“ Sachsenhausen bei Oranienburg, ebenfalls nur einige Straßen entfernt gewohnt hat.
Die passive, verschleiernde Sprache und nur eingeschränkte Kenntnis der Vergangenheit ist symptomatisch, denn wir erinnern kaum die Täterinnen und Täter, erinnern nicht derer, die „einfach nur“ Karriere machten, und derer, die danebenstanden. Das stimmt erst recht mit Blick auf die Weitergabe von Erinnerungen in den Familien. Hier findet sich das vor, was soziologisch treffend als Vermutung der familienbiographischen Unschuld im Land der Täterinnen und Täter bezeichnet werden kann. Eine Leerstelle der Erinnerung für die Nachgeborenen, ein Nicht-Wissen, Nicht-Wissen-Können, ein Nicht-Wissen-Wollen.
Aus Vergangenheit erwachsen Haltungen
Aber solche Unschuld gab es kaum, denn wenn niemand mitgetan hätte, wäre das Menschheitsverbrechen der Shoah nicht passiert. Das unbehagliche Nichtwissen muss benannt werden, denn es gehört in die Diskussion um den Antisemitismus aber auch in die Analyse der Haltungen in unserem Land zum Krieg in Nahen Osten hinein. Denn aus Vergangenheit erwachsen Haltungen. Das deutsche „Nie wieder“, das in seiner Kürze so eindeutig klingt, hat durchaus unterschiedliche Farben und Nuancierungen und ist daher gerade nicht eindeutig: Nie wieder Ausschwitz, nie wieder Krieg – aber auch und gerade: Nie wieder Täter*in sein. Dass dieser Dreiklang möglich ist, wurde jahrzehntelang in der Bonner und dann Berliner Republik kaum in Frage gestellt. Inmitten eines friedlichen Europas, in dem aus Feinden Freunde geworden waren und die Grenzen so sicher waren, dass man sie öffnen konnte, hat sich dieser Dreiklang harmonisch angefühlt.
Nicht nur mit Blick auf die Verwendung des Passivs bei Gedenkveranstaltungen, auch mit Blick auf die Diskussionen des vergangenen Jahres zum Antisemitismus spüre ich immer stärker ein Unbehagen mit Blick auf die Sprache, denn meiner Wahrnehmung nach bildet die Sprache hier eine Versachlichung, eine Objektivierung ab, die unangemessen ist. „Der Antisemitismus bricht sich gewaltvoller Bahn…“, „wir erleben einen wachsenden Antisemitismus…“ so und ähnlich lesen wir in Artikeln und auf Meinungsseiten. Doch es geht nicht um den Antisemitismus als eine abstrakte, steigende Größe, es geht um Menschen. Die bundesweite Antisemitismus-Beratungsstelle Ofekhat seit dem 7. Oktober 2023 fünfmal so viele Beratungsanfragen bekommen wie im Jahr davor. Jüdische Menschen, Männer, Frauen und Kinder wurden beleidigt, bedroht und verletzt. Drei von vier Jüdinnen und Juden in Europa geben sich öffentlich nicht als jüdisch zu erkennen. Die Diskussionen mit und unter jüdischen Freundinnen, wie man in dieser Situation die Kinder am sichersten erzieht – indem man ihnen rät, sich nichts als jüdisch in der Schule zu zeigen oder angstfrei das jetzt gerade zu tun – sind erschütternd. Es ist unerträglich und muss gerade von so vielen jüdischen Menschen ertragen werden.
Und zu jedem Passiv gibt es ja auch hier ein Aktiv: Täter*innen, die im Netz und auf der Straße bedrohen, Täter*innen, die auf Häuserwände schreiben, die verletzen, die beschimpfen, die relativieren. Der durchgestrichene Davidstern steht nicht plötzlich wie von Zauberhand an der Hauswand – er wird mit voller Absicht dorthin geschmiert.
Der 7. Oktober war eine Zäsur
Der 7. Oktober 2023 war eine Zäsur in vielerlei Hinsicht. Kämpfer der Hamas und anderer terroristischer Gruppen verübten ein medial inszeniertes Pogrom, eine Orgie der Gewalt. Diese Gewalt, die sich nicht zuletzt, aber exemplarisch auch als Gewalt gegen die Körper und die Seelen der vergewaltigten und getöteten Frauen zeigt, erschüttert mich weiterhin nachhaltig und begleitet mich bis in meine Träume.
Es war nicht das erste Pogrom nach dem Ende der Shoah – beim Pogrom im polnischen Kielce wurden am 4. Juli 1946 mehr als 40 polnische Juden ermordet, jedoch sandte das Pogrom vom 7. Oktober 2023 seine Botschaft der Auslöschung mit voller bestialischer Kraft an Jüdinnen und Juden in der ganzen Welt. Deshalb trugen die Täter Bodycams.
Die Menschlichkeit nicht verlieren
Ich habe in den vergangenen Monaten mit vielen israelischen, palästinensischen und israelisch-palästinensischen Projektpartnern von Brot für die Welt und der Diakonie Katastrophenhilfe gesprochen. Die Erschütterung über das Geschehen am 7. Oktober und den Krieg in Gaza ist in allen Gesprächen präsent. In vielen Partnerorganisationen arbeiten israelische und palästinensische Menschen zusammen, unsere Partner versuchen zusammenzudenken, was zusammen undenkbar erscheint, wollen die Menschlichkeit nicht verlieren, sich nicht loslassen in den Fliehkräften, die im Nahen Osten entstehen. Und das kostet sie unglaubliche Kraft.
Die Gewalt des 7. Oktober hat Israel tief erschüttert, unser Projektpartner Guy Shalev schildert im Gespräch mit uns eindrücklich die ersten Stunden und Tage, in denen seine Organisation Physicians for Human Rights die geflohenen Einwohner der Kibbuzim und Dörfer betreute. In seinen Schilderungen wird der Schrecken lebendig.
Mit dieser Organisation arbeitet Brot für die Welt seit vielen Jahren zusammen und unterstützt die Arbeit der mobilen medizinischen Kliniken in der Westbank. Die Hilfe dieser Ärztinnen und Ärzte ist immer wichtiger geworden, auch aufgrund von Übergriffen gewaltbereiter Siedlerinnen und Siedler, deren Zahl unter der derzeitigen israelischen Regierung so erschreckend zugenommen hat.
Hilfe auf allen Seiten
Vor einigen Monaten hat die Diakonie Katastrophenhilfe ein Projekt mit der Organisation auch in Israel aufgesetzt. Der Fokus des Projekts liegt auf dem Zugang zu Gesundheitsversorgung für vom Konflikt betroffene besonders verletzliche Personen und Gemeinden u.a. aus Ostjerusalem, Jaffa und dem Süden Israels. Die Vorsitzende des Aufsichtsrates von Physicians for Human Rights ist eine palästinensische Ärztin, sie sollte eigentlich am 12. Oktober 2023 nach Gaza reisen und hatte die Taschen mit Medikamenten und Kinderspielzeugen bereits zusammengestellt. Ohne zu zögern, packte sie das alles am 7. Oktober ins Auto und fuhr in die Hotels am Toten Meer, in denen aus den Ortschaften im Süden Israels geflüchtete Menschen Zuflucht gefunden haben.
Für sie, für Guy Shalev und ihre Kolleginnen und Kollegen ist es völlig selbstverständlich, dass ihre medizinische Hilfe allen Hilfsbedürftigen zugutekommt, das Denken und die Rede von der „einen und der anderen Seite“, welches sich fast schon ritualisiert in vielen Artikeln und Reden findet, begegnet mir im Gespräch mit unseren Projektpartnern an keiner einzigen Stelle.
Mitleidlosigkeit erschüttert Grundvertrauen in Menschlichkeit
Was unsere Partner und besonders die Frauen in Israel bis ins Mark erschreckt, ist das Unverständnis darüber, was am 7. Oktober geschehen ist – und die Mitleidslosigkeit gegenüber den Opfern, die jüdische Menschen auch hier bei uns in großen Teilen der öffentlichen Debatte und in ihrem privaten Umfeld spüren. Solche Mitleidslosigkeit erschüttert ein Grundvertrauen in die Menschlichkeit, sowohl in Israel als auch bei den Jüdinnen und Juden in unserem Land.
Und auch hier müssen wir uns bewusst sein, in welchem Erinnerungsraum unsere Mitleidlosigkeit schwingt. In der Dauerausstellung in Yad Vashem mit ihren vielen Bildern einer gnadenlosen Geschichte ist es der Raum über die Konferenz von Evian von 1938, der mich oft am längsten festhält. Obwohl Jüdinnen und Juden in Deutschland in jenem Jahr bereits nahezu aller Rechte beraubt worden waren, weigerten sich fast ausnahmslos alle anwesenden Staaten und Hilfsorganisationen, ihre Aufnahmekontingente für jüdische Flüchtlinge aus Deutschland zu erhöhen. Golda Meir schriebt dazu in ihren Erinnerungen „Dazusitzen, in diesem wunderbaren Saal, zuzuhören, wie die Vertreter von 32 Staaten nacheinander aufstanden und erklärten, wie furchtbar gern sie eine größere Zahl Flüchtlinge aufnehmen würden und wie schrecklich leid es ihnen tue, dass sie das leider nicht tun könnten, war eine erschütternde Erfahrung. […] Ich hatte Lust, aufzustehen und sie alle anzuschreien: Wisst ihr denn nicht, dass diese verdammten ‚Zahlen‘ menschliche Wesen sind, Menschen, die den Rest ihres Lebens in Konzentrationslagern oder auf der Flucht rund um den Erdball verbringen müssen wie Aussätzige, wenn ihr sie nicht aufnehmt?“. Die Welt schaute 1938 weg und überließ mitleidslos die Jüdinnen und Juden in Deutschland ihrem Schicksal.
Unsere Mitleidslosigkeit dient nicht dem Frieden
In diesem Erinnerungsraum schwingt unser Nicht-Wissen-Wollen der familiären Vergangenheit ebenso mit wie unsere Mitleidslosigkeit. Und beides stärkt diejenigen, die beschwören wollen, dass Jüdinnen und Juden nur in Israel sicher sein können und die Verteidigung Israels um jeden Preis die einzig mögliche Antwort darstellt. Unsere Mitleidlosigkeit dient nicht dem Frieden.
Bei unseren Partnern in Israel ist eine große Angst zu spüren, eine Angst mit Blick auf die Innenpolitik Israels, auf ein Land mit einer Regierung, in der rechtsnationale und rechtsreligiöse Kräfte die Politik bestimmen und in der nicht nur die Gewaltenteilung auf dem Spiel steht, sondern auch die Zukunft der Demokratie. Und eine Angst vor den Angriffen von außen, vor Hamas, Hisbollah, den Huthis, dem Iran. Niemand von unseren Partnern in Israel, mit denen ich in den vergangenen Wochen und Monaten gesprochen habe, bezweifelt, dass sich Israel gegen die Hamas in einem Verteidigungskrieg befindet. Aber viele von ihnen verzweifeln an diesem Krieg und an der israelischen Kriegsführung.
Der israelische Erinnerungsraum ist ein anderer als der deutsche. Das „Nie wieder“ ist mit Blick auf die Geschichte des jüdischen Staates anders konnotiert. Bereits der Zweiklang, Nie wieder Ausschwitz, nie wieder Krieg ist aus israelischer Erfahrung nicht nur unharmonisch, sondern völlig unsinnig. Denn bereits an jenem ersten Tag, nachdem im UN-Teilungsplan ein jüdischer und ein arabischer – so der damalige Sprachduktus – Staat vorgezeichnet wurden und David Ben Gurion den Staat am 14. Mai 1948 proklamierte, griffen Ägypten, Transjordanien, Syrien, der Libanon und der Irak Israel an. Im Verlauf des Krieges besetzte Transjordanien die Westbank, Ägypten nahm den Gazastreifen ein. Die Erfahrung, von verbündeten Staaten umgeben zu sein, die Deutschland nach 1945 geprägt hat, hat Israel niemals gemacht. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Kriegserfahrung für Israel eine andere gewesen und auch, wenn das Schweigen die Familien verbindet, lagen dahinter die Erfahrungen von Leid und Scham über das Erlittene – oder auch über das eigene Überleben.
Mit Guy Shalev habe ich über die Reaktion Israels nach dem 7. Oktober gesprochen. Er formuliert: „Leider ist es eine natürliche Reaktion: In einer solchen Weise angegriffen worden zu sein, führt zu der Sehnsucht nach Stärke, danach, mit mehr Macht aufzutreten und die Schwäche mit Aggression zu überkompensieren. Das gilt für das eigene Leben genauso wie für die Reaktion einer Gesellschaft. Die unmittelbaren Entscheidungen nach dem 7. Oktober – Macht auszustrahlen, aggressiv aufzutreten und sich abzuschirmen gegenüber dem Leid der anderen Seite – spielten sich ab in einem sehr sensiblen Moment. (…) Israel war noch nie so schwach wie heute. Alle Ereignisse nach dem 7. Oktober haben den internationalen Druck erhöht und etwa die Gefahr von Sanktionen erhöht. (…) Alles, was darauf abzielte, Stärke zu beweisen, hat uns schwächer gemacht.
Das Sterben in Gaza ist kaum zu fassen
Das Sterben in der Westbank, in Gaza und im Libanon ist grauenvoll und lässt sich in seiner furchtbaren Dimension für mich kaum emotional erfassen. Nach Angaben des Amtes der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten, UN OCHA, sind 736 Palästinenserinnen und Palästinenser seit dem 7. Oktober 2023 in der Westbank getötet worden, 165 von ihnen minderjährig. Nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums sind in Gaza seit Beginn des Krieges mehr als 43.600 Menschen getötet worden und unzählige Menschen leiden Hunger. Im Libanon sind laut dem Gesundheitsministerium des Landes bisher rund 3.400 Menschen getötet worden. Politikerinnen und Politiker aus der von Premierminister Benjamin Netanjahu angeführten Regierung, in der rechtsnationale und rechtsreligiöse Kräfte ihre Macht ausspielen, pflegen eine unerträgliche Rhetorik, der schon länger auch Taten folgen und von der zu befürchten ist, dass ihr noch weitere Taten folgen sollen, die das Völkerrecht weiter unterhöhlen.
Wenn wir mit größtem Nachdruck formulieren, dass alle Seiten das Humanitäre Völkerrecht achten müssen, so wissen wir gleichzeitig, dass die Hamas und die Hisbollah sich darum auf grausam nachgewiesene Weise nicht scheren und sich auch niemals geschert haben. Noch immer liegt das Schicksal von mehr als 100 Geiseln im Ungewissen und wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen. Und gleichzeitig entbinden die Taten dieses grausamen, das Völkerrecht konstitutiv brechenden Gegners Israel nicht von der Verpflichtung, das Humanitäre Völkerrecht selbst zu achten.
Israels Regierung muss die Zivilbevölkerung in Gaza schützen
Im Mai 2023 bin ich eine Woche in Gaza gewesen. Auf dieser meiner ersten Reise nach der Machtübernahme der Hamas im Jahr 2007 ist mir bewusst geworden, wie falsch die Sprache ist, die wir hier verwenden, wie unzulänglich die Begriffe sind. Gaza hatte so viele Facetten: schöne Hotels am Strand und gut eingerichtete Geschäfte auf der einen Seite. Gaza hatte mehrere Universitäten – und gleichzeitig eine fürchterliche Armut und Not. 50 Prozent der Kinder in Gaza lebten auch vor diesem Krieg unterhalb der Armutsgrenze.
Die weit verbreitete Rede vom größten Gefängnis der Welt ist aus vielen Gründen nicht akkurat: auch weil sie nicht auszudrücken vermochte und vermag, was Gaza zunächst einmal für viele Menschen war: geliebte Heimat. Viele unserer Projektpartner, mit denen wir auf dieser Reise gesprochen haben, hätten an anderen Orten der Welt arbeiten können. Sie wollten aber dort in Gaza leben und arbeiten, hatten die Hoffnung nicht aufgegeben auf die Zukunft. Ihre Heimat ist eine Trümmerwüste geworden, in der zu viele Menschen fehlen, weil sie in diesem fürchterlichen Krieg getötet worden sind. Sie werden nie zurückkommen.
Seit mehr als einem Jahr kann in Gaza nur über Generatoren Elektrizität erzeugt werden. Das Trinkwasser reicht nicht aus. Wir wissen, dass zu viele Menschen in Gaza unendlich leiden, zigtausende Kinder hungern und mehr als 20.000 Menschen für Operationen und andere medizinische Maßnahmen evakuiert werden müssen, weil sie in Gaza nicht versorgt werden können. Anstatt der notwendigen 500 LKWs pro Tag erhielten in der ersten Novemberwoche 2024 im Schnitt nur 69 LKWs täglich einen Zugang nach Gaza und die Lage ist eine humanitäre Katastrophe. Das ist nicht hinnehmbar, die israelische Regierung muss ihrer Verantwortung zum Schutz der Zivilbevölkerung nachkommen.
Unsere Projektpartner im Gazastreifen haben mich bei jenem Besuch im Mai 2023 sehr beeindruckt. Sie machten sich keine Illusionen über die Hamas – wie auch, sie lebten und leben ja in der Realität der Hamasherrschaft und ihrer Folterkeller. Sie arbeiteten mit jungen Menschen, um ihnen Ausbildung und damit Hoffnung auf die Zukunft zu geben, betrieben eine Klinik für Mütter und Kinder und eine Station zur Behandlung von Brustkrebs. Sie sprachen von der „doppelten Besatzung“ um sowohl die israelische Grenzkontrolle des Gazastreifens als auch die Herrschaft der Hamas zu charakterisieren. Ich habe große Angst um sie.
In der 4. Generation staatenlos im Exil
Wenn ich jetzt mit Palästinenserinnen und Palästinensern spreche, dann erlebe ich über Zoom oder auf bei Besuchen in meinem Wohnzimmer, wie Furcht und Wut Menschen in Mimik und Gefühl erstarren lassen. Das Grauen des Sterbens und der Not, welches die arabischen Sender anders als die deutschen ungeschnitten in seiner Grauenhaftigkeit zeigen, lässt sie erfrieren. Und die eine Begleitmelodie ist in fast jedem Gespräch zu hören: Ihr seht uns nicht! Ihr hört uns nicht! Unser Sterben zählt nicht!
Auch die palästinensische Geschichte schwingt dabei in einem Erinnerungsraum. Die Idee eines eigenen Staates Palästina war auch, aber nicht nur, von Transjordanien nicht gewollt. Der Unabhängigkeitskrieg Israels führte zu einem tiefen Trauma: Zwischen 1947 und 1949 sahen sich zwischen 700.000 und 750.000 Palästinenser*innen gezwungen, ihre Häuser zu verlassen. Ob und wo Flucht oder Vertreibung der Grund dafür war, wird seit Öffnung der Archive in den achtziger Jahren in vielen Publikationen diskutiert und ändert doch an der Situation der Menschen heute nichts: die Geflüchteten und ihre Nachkommen leben nun in 4. Generation oft staatenlos im Exil.
Etwa 850.000 Jüdinnen und Juden flüchteten von 1948 an im Lauf der Jahrzehnte aus arabischen Ländern nach Israel, sie wurden selbstverständlich israelische Staatsbürger. Den exilierten Palästinenserinnen und Palästinensern wurde das in vielen Fällen in ihren Aufnahmeländern verwehrt. In Jordanien haben Geflüchtete aus der Westbank meist die jordanische Staatsbürgerschaft, die aus Gaza jedoch nicht. Im Libanon haben die wenigsten Geflüchteten aus der Westbank und aus Gaza die libanesische Staatsbürgerschaft und sind von fast vierzig Berufen ausgeschlossen. Statt Integration und Aufnahme wurden Menschen zu politischen Druckmitteln. Die Bombardierung von Jarmuk, der „Hauptstadt der palästinensischen Diaspora“, im Dezember 2012 durch das syrische Assad-Regime hat auch international Aufmerksamkeit erfahren, bei vielen anderen Nachrichten mit Blick auf das Schicksal der Palästinenserinnen und Palästinenser außerhalb der palästinensischen Gebiete ist das selten der Fall. Das ist selektive Wahrnehmung und kann als zweifacher Doppelstandard verstanden werden – dass uns ihr Schicksal nur bekümmert, wenn der jüdische Staat als Täter verstanden wird. Und auch das wird der Komplexität nicht gerecht und hilft dem Frieden im Nahen Osten nicht.
Die Rolle des UN-Menschenrechtsrats und der UNRWA
Die Vereinten Nationen sind kein einfaches Gegenüber für den jüdischen Staat. Der Agendapunkt 7 zur „menschenrechtlichen Situation in Palästina“ des UN-Menschenrechtsrates, ist der einzige Punkt, der regelmäßig im Rat aufgerufen wird. Das führt dazu, dass Israel häufiger verurteilt wird als alle anderen Nationen zusammen – angesichts der grausamen Realität in einer Welt, in der Menschenrechtsverletzungen von so vielen Staaten begangen werden, ist das schwer auszuhalten. Ob die Existenz eines UN-Flüchtlingswerkes allein für die Unterstützung der geflüchteten Palästinenserinnen und Palästinenser nicht auch dazu beigetragen hat, dass keine Integration in die umliegenden arabischen Staaten geschieht, kann und muss man diskutieren. Denn hier wird die Vererbung des Flüchtlingsstatus zementiert. All das mag eine Rolle gespielt haben, als am 28. Oktober 2024 die Knesset mit großer Mehrheit – nicht nur mit den Stimmen der Regierungskoalition! – zwei Gesetze verabschiedete, die darauf abzielen, nach Ablauf von drei Monaten die Arbeit des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (United Nations Relief and Works Agency, UNRWA) einzustellen. Das wäre jedoch eine Katastrophe für die Menschen in Gaza!
Das Mandat der UNRWA, die Palästinenserinnen und Palästinenser mit lebenswichtigen Hilfen und Diensten zu versorgen, kann kurzfristig und auf absehbare Zeit von keinem Akteur ersetzt werden. Die katastrophale Situation der Menschen im Gazastreifen würde sich weiter verschlechtern. Die Zahlungen an die Organisation müssen insbesondere mit Blick auf die Notversorgung gesichert sein. Unsere Projektpartnerin Tania Hary von der Organisation Gisha beschreibt die Hoffnung vieler Israelis, dass mit dem Verbot der UNRWA auch das jahrzehntelange ungelöste Problem der Flüchtlinge verschwände und erklärt so die große Zustimmung zu der Verabschiedung der beiden Gesetze und die Verhärtung, die hierin zum Ausdruck kommt. Auch diesen Erinnerungsraum müssen wir versuchen, zu verstehen – und gleichzeitig muss die Bundesregierung weiterhin nachdrücklich darauf hinwirken, dass die vor den Beschlüssen der Knesset geltende Rechtsgrundlage, die es UNRWA erlaubt, ihr Mandat zu erfüllen, wieder hergestellt wird – denn es gibt zurzeit keine Alternative.
Es gibt keine zwei Seiten
Der Terrorangriff der Hamas und der Krieg in Gaza und im Libanon stellen unsere Projektpartner in Israel und den besetzen Gebieten vor unmenschliche Herausforderungen. Die unterschiedlichen Nachrichten in den israelischen und palästinensischen Sendern formen unterschiedliche Narrative, kaum eine Familie hat nicht geliebte Angehörige oder Freunde verloren. Kaum eine Familie hat nicht fürchterliche Angst. Und dennoch tun die Partner alles, um zusammenzustehen, ich vermag nicht auszudrücken, wie tief mich das beeindruckt. Ich weiß nicht, ob ich zu dieser Mitmenschlichkeit fähig wäre – ich hoffe es.
Unsere Projektpartner sehen sich nicht auf den zu oft beschworenen beiden Seiten – sie stehen auf einer Seite, der Seite derer, die den Frieden und eine gerechte Zukunft für alle Menschen in der Region wollen. Es ist unsere Aufgabe, diese Friedenskräfte zu unterstützen.
Der ernsthafte Kampf gegen den Antisemitismus bei uns in Deutschland und Europa ist dabei ein wichtiger Schritt. Und es ist unser aller Aufgabe, in unserem Land gegen diejenigen einzuschreiten, die antisemitische Straftaten begehen und antisemitische Haltungen verbreiten. Im rechten Milieu, im linken Milieu, in den migrantischen Communities und in der Mitte der Gesellschaft. Ja, es kann durchaus komplex sein, sich mit den Feinheiten der Abgrenzung des israelbezogenen Antisemitismus auseinanderzusetzen und es kann Bereiche geben, in denen man lange diskutieren muss – aber in den allermeisten Fällen genügt der gesunde Menschenverstand und den gilt es beherzt einzusetzen. Und auch antimuslimischen Rassismus müssen wir klar benennen! Das eine hebt das andere nicht auf, kann und darf es gar nicht. Unwidersprochene Feindschaft gegenüber Jüdinnen und Juden – und Musliminnen und Muslimen – stärkt im Nahen Osten die Narrative derer, die keine Zukunft schaffen können oder wollen.
Nur Empathie hilft dem Nahen Osten
Die Menschen im Nahen Osten, in Israel, in den palästinensischen Gebieten, brauchen unser Mitleid und unser Mitfühlen. Unser genaues Hinsehen auf die Sorgen und die Bedrohung in Israel und die humanitäre Katastrophe in Gaza und im Libanon. Sie brauchen die Unterstützung aller Kräfte, die sich für eine Zukunft einsetzen. Sie brauchen nicht unsere Besserwisserei, sie brauchen, dass wir den richtigen Menschen zuhören. Sie brauchen unser Verstehen der eigenen und der anderen Erinnerungsräume und der Geschichte. Sie brauchen unser klares Benennen der Katastrophe, die sich vor unseren Augen abspielt. Sie brauchen unsere klaren politischen Forderungen, die sie unterstützen: die UNRWA muss weiterarbeiten können, es braucht sichere humanitäre Zugänge nach Gaza und in den Libanon. Die völkerrechtswidrige Besatzung der Westbank muss beendet werden und gleichzeitig muss dem Sicherheitsbedürfnis des jüdischen Staates Rechnung getragen werden. Alle Parteien müssen sich auch im Krieg an das humanitäre Völkerrecht halten. Die Geiseln müssen freigelassen werden! Die Hamas und der Islamische Staat dürfen nicht länger von arabischen Staaten unterstützt werden und die Situation der Palästinenserinnen und Palästinenser im Libanon, in Syrien und in Jordanien muss sich grundlegend ändern. Für all diese Forderungen braucht es politischen Druck.
Wir werden mit diesen Forderungen dann Gehör finden, wenn wir das unsrige tun: der Komplexität der Themen nicht ausweichen, die eigene Verantwortung für die deutsche Geschichte übernehmen und den Kampf gegen den gegenwärtigen Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus führen. Forderungen, die versuchen davon abzusehen, werden bei der Mehrheit der politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern in Israel und im gesamten Nahen Osten kaum ernstgenommen werden.
Wenn sie das aushalten – wie könnten wir das nicht tun?
Als ich unsere Projektpartner Tania Hary, die sich mit der von ihr geleiteten Organisation Gisha für Zugänge zum Gazastreifen einsetzt und mehrmals dazu vor dem UN-Sicherheitsrat gesprochen hat, fragte, was ihr Hoffnung gäbe, sprach sie von den engagierten Pädagoginnen und Pädagogen in Gaza, die selbst in dieser Situation in Zelten unermüdlich versuchen, den Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen. Es sind Projektpartner von Brot für die Welt, deren Gebäude zwar zerstört sind, die aber unermüdlich dennoch ihrem Auftrag nachkommen. „Wenn sie das tun, das aushalten, wie könnte ich nicht weiterarbeiten?“, sagte Tania.
Unsere Projektpartner versuchen weiterhin zusammenzustehen – und das ist so unendlich schwer. Wenn sie das tun, das aushalten, wie könnten wir nicht unermüdlich weiterarbeiten und sie unterstützen? Wenn sie das Gemeinsame und den Zusammenhalt im Krieg versuchen zu bewahren und sich gemeinsam auf die eine Seite, die Seite des friedlichen Miteinanders, stellen, wie können wir es wagen, der Komplexität auszuweichen und eine Dualität zu beschwören, die es so nicht gibt?
Lassen wir sie nicht allein
Die Zivilgesellschaft im Nahen Osten braucht unser Mitfühlen und unsere Unterstützung. Denn nur hier kann Zukunft gelingen. Als Shimon Peres, der Architekt des Osloer Friedens, starb, fand sich in einem der Nachrufe über diesen sozialdemokratischen Staatsmann auch ein Zitat von Hannah Arendt: „In der Hoffnung überspringt die Seele die Wirklichkeit, wie sie sich in der Furcht vor ihr zurückzieht“. Diese Hoffnung kann nur durch die Zivilgesellschaften im Nahen Osten genährt werden – lassen wir sie nicht allein!