Am 8. Dezember 2024 wurde das Assad-Regime durch HTS-Milizen gestürzt. Weihnachten 2024 sind Sie nach 34 Jahren das erst Mal in Syriens Hauptstadt Damaskus gereist. Wie war diese Erfahrung?
Es war ein unbeschreibliches Gefühl, wie eine Neugeburt. Ich kam mit 13 Jahren nach Deutschland lebte als Erwachsener teils hier, teils in Nordsyrien. Ich bin zwar inzwischen auch deutscher Staatsangehöriger, konnte aber nie zuvor nach Damaskus reisen. Ich hatte dort das erste Mal das Gefühl, zu Syrien zu gehören und eine Hauptstadt mit Kultur und Geschichte zu haben.
Was ich bis dahin von Syrien kannte, war nur der landwirtschaftlich geprägte Nordosten. Er wurde von einer Koalition aus Kurden, Arabern und Christen verwaltet und befand sich nicht unter der Kontrolle des Assad-Regimes. Ich stand auf der schwarzen Liste des Sicherheitsapparates. Wenn sie mich verhaftet hätten, wäre ich wahrscheinlich irgendwo verschwunden.
Wie haben Sie Damaskus erlebt?
Manche Menschen haben gefeiert und sich wie Sieger gefühlt. Aber „Sieger sein“ würde ja bedeuten, dass es auch „Besiegte“ gibt. Besiegt ist nur das Regime. Daher habe ich nicht mitgefeiert. Es gab auch Menschen, die aus Angst oder mit Existenzsorgen zu Hause geblieben sind.
Mein Eindruck in der Stadt war: Wir Syrer kennen uns gar nicht untereinander. Wer hat welche Probleme und welche Geschichte? Die Distanz zwischen den Menschen war in den letzten Jahrzehnten einfach zu groß. Jetzt ist es Zeit, einander kennenzulernen, zu verstehen und zu akzeptieren.
Das Land ist in weiten Teilen zerstört, viele sind nach 13 Jahren Bürgerkrieg traumatisiert.
Ich arbeite seit elf Jahren in Syrien, aber noch nie habe ich eine solche Armut wie in Damaskus gesehen. Die Diktatur hat alles aus den Menschen herausgepresst. Das Land ist tief erschöpft und krank, du siehst es in den Gesichtern der Menschen. Der tägliche Kampf hat alle Kräfte aufgezehrt.
Der Alltag ist schwierig, die Zukunft unsicher
Was brauchen die Menschen jetzt? Was beschäftigt sie?
Sie brauchen Unterstützung jeder Art. Alles ist sehr teuer geworden. Es gibt keinen Strom. Lebensmittel und Wohnraum, psychologische und medizinische Hilfe fehlen. Auf den Straßen wimmelt es von Bettlern.
Aber die meisten Menschen sind erleichtert, dass das Regime weg ist. Das eint sie. Die abscheulichen Verbrechen haben ein Ende.
Viele befürchten zugleich, dass die neuen Machthaber den Umbau Syriens zu einem islamistischen Gottesstaat planen könnten. Damaskus ist eine muslimische Stadt. Aber die Mehrheit der Einwohner ist nicht extremistisch und ideologisch fixiert. Und neben ihnen leben auch Christen und Gläubige anderer Religionen.
Wie schätzen Sie die neuen Machthaber ein?
Ich bin mir noch nicht sicher, was sie wirklich wollen. Jedenfalls muss die Zivilgesellschaft jetzt an einem Strang ziehen, gemeinsam einen neuen Staat mit gleichen Rechten und Chancen für alle aufbauen.
Sehen Sie bei Ahmed al-Scharaa, dem Anführer der HTS-Miliz, Reformbereitschaft und echten Willen für einen Neuanfang?
Ich bin grundsätzlich ein optimistischer Mensch und habe jetzt erstmal Hoffnung. Die Risiken können wir nicht leugnen, aber die Chancen müssen wir wahrnehmen. Syrien ist multiethnisch und multireligiös. Gerade diese Vielfalt ist unsere Stärke.
Die Muslime, die Christen, die Jesiden, die Kurden, die Drusen, die Araber, die Turkmenen, die Armenier, die Atheisten, die Schwulen und die Lesben – jeder soll frei sein in diesem Land. Wir müssen uns für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einsetzen.
Syrien braucht Unterstützung
Was erwarten Sie von der internationalen Gemeinschaft?
Es ist wichtig, dass die internationale Gemeinschaft das alles kritisch begleitet und dafür sorgt, dass Diversität und Pluralität gewahrt bleiben und dass die Zivilgesellschaft gestärkt aus den Trümmern der Diktatur hervorgeht.
Was brauchen zivilgesellschaftliche Organisationen jetzt?
Syrien benötigt dringend Unterstützung und Know-how von anderen, ohne internationale Hilfe und finanzielle Mittel wird es das Land nicht schaffen. Aber manche Staaten, die jetzt mit viel Geld zu uns kommen, wie etwa Katar oder die Türkei, verfolgen ganz eigene Interessen. Sie sind kaum an einer starken, bunten Zivilgesellschaft interessiert, in der alle ohne Angst leben können. Umso zentraler sind für uns Partner wie Brot für die Welt und andere, vielleicht auch neue Organisationen.
Hat Arta FM vor, seine Aktivitäten überregional auszuweiten?
Wir werden im Nordosten bleiben und die Menschen weiterhin in ihren lokalen Sprachen mit Informationen versorgen. Aber viel wichtiger als zuvor wird es sein, dass wir die Verbindung zu anderen Teilen Syriens herstellen und durch Austausch helfen, Vorurteile, die unter dem Assad-Regime entstanden sind, abzubauen.
Wir haben jetzt in Damaskus viele Berichte vor Ort gemacht und wollen bald mit Arta regelmäßig auch dort mehrsprachig senden. Unabhängige Medien jenseits des Mainstreams können einen großen Beitrag leisten – gerade dort, wo die Mainstream-Medien nicht hingelangen. Wir arbeiten seit vielen Jahren mit örtlichen Communities zusammen und fördern den Dialog: miteinander und nicht übereinander reden. Das ist unsere Stärke.
Der größte Wunsch: ein friedliches Miteinander
Wie geht es in diesem Umbruch religiösen Minderheiten wie den Christen?
Sie haben Angst um ihre Existenz. Syrien ist ihre Heimat. Die neuen Machthaber müssen jetzt schnell zeigen, dass auch die Christen das Recht haben, im Land friedlich weiterzuleben. In unserem Team sind auch Christen, wir berichten unter anderem in ihrer Sprache, Aramäisch.
Ich hoffe, dass die Christen ihre Stimme erheben und sich nicht einschüchtern lassen. Die Mehrheit in Syrien wird nicht zulassen, dass Christen bedroht werden. Man muss in die Offensive gehen und sich zeigen. Das ist sehr wichtig, auch wenn es schwierig ist.
Was ist Ihr größter Wunsch für die Zukunft Ihres Landes?
Ein friedliches Miteinander, in dem alle ihre Religion ausüben können, ohne Angst davor zu haben, ihre kulturellen und ethnischen Identitäten zu zeigen. Syrien ist ein schönes Land, es ist für alle da. Es soll ein weltoffener Staat werden, in dem jeder frei leben kann. Das ist unsere Hoffnung, das muss unsere Zukunft sein.