Meine Damen und Herren, liebe Gäste,
ich bin dankbar für die Gelegenheit, mich hier auf der ITB mit der aktuellen Situation der Zivilgesellschaft zu befassen. Der Zeitpunkt könnte nicht passender sein, denn 2024 ist ein Jahr, in dem in mehr als 50 Ländern nationale Wahlen stattfinden. Mehr als drei Milliarden Menschen sind dazu aufgerufen, ihre demokratischen Rechte wahrzunehmen. Diese große Zahl darf aber nicht vergessen machen, dass es weiterhin Milliarden von Menschen gibt, die diese grundlegende Freiheit schmerzlich vermissen, weil sie in Ländern ohne demokratische Wahlen leben.
Auch wenn 2024 ein Super-Wahljahr ist, müssen wir eine bittere Realität zur Kenntnis nehmen. Jüngste Trends zeigen ein besorgniserregendes Muster: eine globale demokratische Rezession, die sich mindestens über die letzten zehn Jahre erstreckt. Die Ergebnisse der Wahlen 2024 könnten deshalb Regierungen hervorbringen, die Freiheiten einschränken, die internationale Zusammenarbeit behindern und die Aktivitäten von Journalist:innen und Medienschaffenden sowie von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Gewerkschaften beschränken.
Der Spielraum der Zivilgesellschaft schrumpft
Gestatten Sie mir, Ihnen den Atlas der Zivilgesellschaft vorzustellen – diese Publikation von Brot für die Welt basiert auf dem Civicus Monitor und ist ein wertvolles Instrument zum Verständnis des Status der Zivilgesellschaft weltweit. Der Monitor bewertet drei entscheidende Dimensionen des zivilgesellschaftlichen Raums: das Recht auf Vereinigungsfreiheit, das Recht auf friedlichen Protest und das Recht auf freie Meinungsäußerung.
Der diesjährige Atlas zeigt: 118 von 198 Ländern und Gebieten fallen in die Kategorien "beschränkt" bis "geschlossen", das heißt, hier sind die Menschen mit schwerwiegenden Einschränkungen ihrer Grundfreiheiten konfrontiert. Es ist schockierend zu wissen, dass fast ein Drittel der Weltbevölkerung, insgesamt 2,4 Milliarden Menschen, in Ländern mit vollständig geschlossenem bürgerlichem Raum lebt. Das ist der höchste Prozentsatz seit 2018. Nur zwei Prozent der Menschheit leben in Ländern, die das Recht auf Vereinigung, friedlichen Protest und freie Meinungsäußerung aktiv ermöglichen und sogar schützen.
Tourismus darf nicht zum Feigenblatt der Diktaturen werden
Was sind nun die Konsequenzen aus diesen Trends und Beobachtungen für den Tourismus? Nur Reisen anzubieten und Geschäfte in Ländern zu machen, die die Freiheitsrechte schützen, ist vermutlich für niemanden hier eine praktikable Option – und offen gesagt wäre die Welt ziemlich klein und trist, wenn man diese Strategie strikt befolgte.
Es ist jedoch auch keine Option, den alarmierenden Trend der Verengung des bürgerlichen Raums zu ignorieren. Der Autoritarismus ist auf dem Vormarsch, und die Tourismusbranche ist nicht immun gegen seine Auswirkungen – im Gegenteil: Autoritäre Staaten nutzen den Tourismus, um der Welt ein positives Bild zu vermitteln. Die Einnahmen aus dem Tourismus finanzieren in vielen Ländern die politische Macht der Eliten. In zahlreichen Ländern dient der Tourismus sowohl als wirtschaftliches als auch als politisches Geschäftsmodell – in einigen Ländern betreibt sogar das Militär oder der Staat selbst touristische Infrastruktur, darunter Flughäfen, Hotels und Kongresszentren. Proteste gegen touristische Entwicklungen werden dort brutal unterdrückt.
Ich bin sehr besorgt über das Schweigen aus vielen Teilen der Welt. Auf der ITB werden wir nichts Kritisches aus den Ländern hören, die in der roten – also vollständig geschlossenen – Kategorie des Atlas der Zivilgesellschaft stehen. Denn in diesen Ländern ist die Zivilgesellschaft bereits zum Schweigen gebracht worden. Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten sind im Gefängnis, im Exil oder sogar tot. Übrigens: 25 der 28 rot markierten Staaten stellen hier auf der ITB aus, einige haben ein sehr starkes und wachsendes Engagement im Tourismus.
Die Tourismuswirtschaft trägt Verantwortung für die Menschenrechte
Meine sehr geehrten Damen und Herren: Was bedeutet das für die Tourismuswirtschaft? Wie kann man unter diesen schwierigen Umständen Geschäfte machen? Wie können Tourismusunternehmen eine Komplizenschaft mit autoritären und unterdrückerischen Regimen vermeiden? Dies ist nicht nur ein moralisches Gebot, sondern eine strategische Notwendigkeit für einen Sektor wie den Tourismus, der mehr als jeder andere Wirtschaftszweig auf Freiheit und lokale Akzeptanz angewiesen ist. Der wichtigste Rahmen für einen solchen Ansatz sind die ‘UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte‘. Die Leitprinzipien sind eindeutig: Selbst wenn Regierungen nicht willens oder in der Lage sind, die Menschenrechte zu schützen, haben Unternehmen die Verantwortung, Menschenrechte zu achten. Vor allem in Ländern mit minimalen zivilgesellschaftlichen Handlungsräumen liegt es in der Verantwortung der Unternehmen, ihr Engagement für die am meisten gefährdeten Gruppen sogar zu intensivieren.
Die Tourismuswende gestalten
Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Blick auf etwas werfen, das Hoffnung macht: Nicht nur autoritäre Tendenzen nehmen zu – sondern auch das Engagement der Zivilgesellschaft und die internationale Solidarität. Aktivist:innen und NGOs wehren sich aktiv gegen die Beeinträchtigung des zivilgesellschaftlichen Raums. Aktuell beteiligen sich auch Reiseveranstalter in Deutschland an Demos gegen Rechts und für mehr Integration.
Darüber hinaus führen immer mehr Reiseveranstalter in den Zielländern Menschenrechtsverträglichkeitsprüfungen durch, setzen sich bei Workshops für den Schutz der Kinderrechte ein und bieten Plattformen für Dialog und Kritik. Zwar haben noch nicht alle Tourismusunternehmen diesen Ansatz übernommen, aber immer mehr erkennen, dass die Förderung der Menschenrechte ein wesentlicher Faktor für ihren Geschäftserfolg ist. Sie wissen, dass es besser ist, von den Richtigen kritisiert zu werden, als von der falschen Seite Beifall zu bekommen.