Annika, du warst letzte Woche in Georgien und konntest Partnerorganisationen besuchen. Was sind deine Eindrücke?
Nachdem ich mit Mitarbeitenden von einigen Partnerorganisationen sprechen konnte, wurde mir klar: Die Situation für zivilgesellschaftliche Organisationen in Georgien ist nahezu ausweglos. Ich habe in zwei Tagen drei Direktor:innen weinen sehen, gestandene Personen, die nichts so leicht unterkriegt. Sie alle müssen zusehen, wie ihre Arbeit der letzten 20 bis 30 Jahre zunichtegemacht wird. Die Organisationen sind in einer Zwickmühle: Das neue Gesetz verlangt, dass sie sich bis September als „Organisationen, die unter ausländischem Einfluss stehen“ beim Justizministerium registrieren müssen. Das Gesetz ist nichts anderes als eine Kopie des russischen „Agenten-Gesetzes“, das registrierte Organisationen stigmatisiert, kontrolliert und schließlich durch fingierte Vorwürfe, Kontrollen oder bürokratischen Mehraufwand handlungsunfähig macht. Unsere Partnerorganisationen wissen das und sind deshalb aktuell nicht bereit sich registrieren zu lassen.
Was passiert, wenn sich NGOs nicht registrieren?
Wer sich nicht registriert, muss ca. 9.000€ Strafe zahlen. Wer einen Monat später immer noch nicht registriert ist, muss weitere 6.500€ zahlen. In einem Jahr summieren sich die Strafzahlungen auf etwa 35.000€. Wer nicht zahlt, wird gepfändet: Bürogebäude, Laptops, Autos, etc. Viele Verantwortliche befürchten auch persönliche Haftung, wenn es bei der Organisation nichts mehr zu holen gibt. Unabhängigen Medien, die für ihre Arbeit Zuschüsse vom Ausland erhalten, sind genauso betroffen.
Das Perfide ist: Es gibt auch nicht die Möglichkeit einfach die Arbeit einzustellen und sich als Organisation aufzulösen, um so einer Registrierung und Strafzahlung zu entgehen. Das Gesetz sieht einen Liquidationsprozess vor, der sechs Monate andauert. Auch in der Zeit der Auflösung müssen sich NGOs entweder registrieren oder eben Strafen zahlen.
„Wahl ist Lichtblick und Hoffnung“
Wie schauen die Partnerorganisationen in die Zukunft?
Bisher kann sich niemand eine Weiterarbeit unter der „russischen Regierung“, wie sie von Partnern genannt wird, vorstellen. Besonders in Georgien arbeiten einige unserer Partnerorganisationen intensiv mit lokalen Verwaltungen im Rahmen der ländlichen Entwicklung zusammen. Das war bereits in den vergangenen Monaten schwierig bis unmöglich. Noch laufende Aktivitäten werden abgeschlossen, aber niemand plant für die Zukunft. Die Aufmerksamkeit der Partner liegt verständlicherweise auf der Parlamentswahl im Oktober. Weiter traut sich im Moment niemand zu denken. Diese Ohnmacht und Unsicherheit ist übrigens auch eine klare Zielsetzung dieses Gesetzes, wie Bidzina Ivanishvili, der Oligarch hinter der regierenden Partei „Georgischer Traum“, während eines öffentlichen Auftritts Ende April zugegeben hat.
Wieso ist die Parlamentswahl so wichtig?
Die Wahl ist Lichtblick und gibt Hoffnung, es wird eine Schicksalsentscheidung für zivilgesellschaftliche Organisationen und freie Medien und eine Entscheidung zwischen Russland und der EU für den Rest der Gesellschaft. Entweder die Opposition gewinnt und das Gesetz wird am „Tag Eins“ wieder einkassiert. Oder die Regierung wird im Amt bestätigt und es folgt die Niederschlagung der Zivilgesellschaft. Alle abweichenden Meinungen werden zensiert, die jungen Leute werden das Land verlassen und Georgien wird für die nächsten Jahre oder Jahrzehnte abgeschottet dem russischen Kurs folgen.
Was denkst du, wird bis zur Wahl im Oktober passieren?
Bereits in den nächsten Wochen und Monaten wird mit starken Repressionen gegen Aktivist:innen, Meinungsführer:innen, Influencer:innen etc. gerechnet. Fast alle Partnerinnen und Partner berichteten schon in den letzten Wochen von einschüchternden Drohungen, Überfällen und anonymen Anrufen in der Nacht. Nahestehende Familienmitglieder der NGO-Mitarbeitenden wurden ebenfalls bedroht. Eine Direktorin meinte, dass der schrittweise Abbau der Zivilgesellschaft und das Stummschalten oppositioneller Meinung, was in Russland zehn Jahre gedauert hat, in Georgien in den letzten Monaten passiert ist. Viele NGOs werden wahrscheinlich nicht unter der jetzigen Regierung weiterarbeiten können. Denn die Regierung stellt selbst „neutrale“ Aktivitäten im Bereich Landwirtschaftliche Entwicklung oder Bildung unter Generalverdacht und würde registrierte Organisationen in Zukunft stark kontrollieren.
„Immer wieder mutige Menschen“
Wie reagieren die NGOs auf die Bestätigung des Gesetzes?
Sie mobilisieren, dokumentieren Menschenrechtsverletzungen, bereiten Wahlbeobachtungen vor, arbeiten mit Jugendgruppen und sind im Gespräch mit ausländischen Regierungen und europäischen Organisationen wie der OSZE. Unser Partner, die Menschenrechtsorganisation GYLA (Georgian Young Lawyers Organisation), bereitet aktuell einen Einspruch beim Verfassungsgericht vor. Die Arbeit der Zivilgesellschaft ist gerade jetzt von immenser Bedeutung. Starke Rückendeckung kommt dabei von der georgischen Jugend, die bisher als eher unpolitisch verortet wurde. Sie mobilisieren weiterhin Proteste, organisieren Getränke und Essen für die Demonstrant:Innen und viele von ihnen haben sich bereits als Wahlbeobachter:innen eingeschrieben.
Doch von dieser positiven Entwicklung abgesehen, sind die NGOs in einer absoluten Notlage und brauchen die Unterstützung und Solidarität von Organisationen wie Brot für die Welt, aber auch von der EU, den EU-Mitgliedsstaaten und Organisationen wie der OSZE und dem Europarat. Unsere Aufmerksamkeit und Unterstützung dürfen nicht weniger werden, jetzt wo das Gesetz verabschiedet ist.
Wie geht es dir in dieser schwierigen Situation?
Ich selbst bin ziemlich geschockt von dem Ausmaß des Anti-NGO-Gesetzes, seiner Wirkung auf die Partnerorganisationen und der jetzigen Situation. Ich hatte es für möglich gehalten, dass die Partner noch arbeiten könnten und es doch irgendwie gehen müsste. Leider wurde ich fürs Erste eines Besseren belehrt. Nichtsdestotrotz habe ich die Hoffnung, dass sich selbst im Fall einer Wahlniederlage der Opposition und dem Fortbestehen des Gesetzes, zumindest einige unserer Partnerorganisationen ihren eigenen Weg finden und irgendwie weiterarbeiten werden. Über die letzten Jahre haben wir bei Brot für die Welt viele solcher Gesetze kommen sehen und trotz aller Widrigkeiten gibt es immer wieder mutige Menschen, die ihrem Kurs treu bleiben und weiterkämpfen. Darauf vertraue ich auch in Georgien.
Herzlichen Dank, liebe Annika, für deinen eindrücklichen Bericht.