Drei Tage nachdem sich die EU-Mitgliedsstaaten auf einen neuen EU-Asyl- und Migrationspakt geeinigt hatten, flogen EU-Kommissionspräsidentin Von der Leyen, Italiens Ministerpräsidentin Meloni und der niederländische Regierungschef Rutte Mitte Juni nach Tunesien. Das Timing für die Reise der hochrangigen Delegation war kein Zufall, ebenso wenig wie der Besuch der deutschen Innenministerin Faeser kurz darauf. Die verstärkte Kooperation mit Drittstaaten ist ein Kernelement des anvisierten EU-Asylpakts. Länder wie Tunesien sollen dafür sorgen, dass möglichst wenige Menschen überhaupt in der EU ankommen – oder diese Menschen so schnell wie möglich wieder zurücknehmen. Die tunesische Juristin Fatma Raach spricht über die Folgen dieser Politik für Migrant*innen, Geflüchtete und die zunehmend unter Druck stehende tunesische Zivilgesellschaft.
In Tunesien geben sich gerade europäische Spitzenpolitiker die Türklinke in die Hand. Wie werden diese Besuche in Tunesien diskutiert?
Das kommt ganz darauf an, mit wem man spricht. Der Präsident und die regierungsnahen Medien verkaufen sie als diplomatischen Erfolg. Sie sagen: „Schaut mal, wie wichtig wir sind. Wir haben die europäischen Politiker gezwungen, zu uns zu kommen und mit uns zu verhandeln.“ Allerdings wissen wir nichts genaues über den Inhalt der Verhandlungen. Die Gespräche sind geheim.
Es scheint auf einen Deal - Wirtschaftshilfe für Kooperation bei der Migrationsabwehr - hinauszulaufen.
Genau. Für uns in der Zivilgesellschaft ist klar: Die EU will Tunesien zu einem Außenposten der Festung Europa machen – und legt dafür nun viel Geld auf den Tisch. Eine klare Konditionalisierung von Hilfe, bei der die EU ihre menschenrechtlichen Ansprüche komplett unter den Tisch fallen lässt.
Allerdings sind die offiziellen Verlautbarungen der Regierung zu den Verhandlungen unklar und teilweise widersprüchlich. So behauptet die Regierung, dass die Zusagen der EU, Tunesien bei der Überwindung seiner Wirtschaftskrise mit Krediten zu helfen, nicht mit einer vermehrten Kooperation bei der Migrationsabwehr zusammenhängen. Stattdessen behauptet unser Präsident: „Wir werden uns nicht zu den Türstehern Europas machen lassen.“
Das ist interessant. Für die EU ist genau das die entscheidende Forderung. Neben der Grenzsicherung geht es der EU auch darum, Asyl und Asylverfahren nach Tunesien auszulagern…
… was die tunesische Regierung in der Öffentlichkeit klar ablehnt. Sie betont lautstark: Wir akzeptieren keine Ausschiffungsplattformen (disembarkation platforms), in denen Asylverfahren von im Mittelmeer aufgegriffenen Migrant*innen geprüft werden. Offiziell ist es für die Regierung keine Option, für die EU ein Auffanglanger für Schutzsuchende zu werden.
Welche Ziele verfolgt die tunesische Regierung denn in ihrer Migrationspolitik?
Das ist schwer zu sagen. Der aktuellen Regierung fehlt Expertise auf diesem Gebiet. Zudem tauscht sie sich – anders wie die vorhergegangen Regierungen – mit der Zivilgesellschaft nicht mehr dazu aus. Von der EU hat Tunesien einen Diskurs übernommen, der stark sicherheitspolitisch geprägt ist. In den offiziellen Statements heißt es immer wieder, wir müssen unsere nationale Souveränität, unsere Grenzen schützen. Im Februar hat Präsident Saied zudem eine rassistische Rede gehalten, in der er behauptete, es gebe einen Plan der Migrant*innen aus Sub-Sahara-Afrika, in Tunesien einen Bevölkerungsaustausch vorzunehmen.
Welche Wirkung hatte diese Rede?
Eine verheerende. Präsident Saied hat damit vorhandene rassistische Ressentiments gestärkt und neue geschürt. Menschen mit schwarzer Hautfarbe wurden durch die Straßen von Tunis gejagt. Mehrere westafrikanische Staaten haben Evakuierungsflüge für ihre Staatsbürger organisiert. Die rassistischen Anfeindungen und Angriffe setzen sich bis heute fort. Vor einigen Tagen hat in Sfax, der zweitgrößten tunesischen Stadt, von der aus viele Menschen Richtung Europa fliehen, eine weitere Demonstration gegen Migrant*innen stattgefunden. Das Klima ist sehr aufgeheizt – und daran trägt die Regierung eine Mitschuld.
Ist sich die EU dieser aufgeheizten Stimmung nicht bewusst?
Ich denke, die EU ist in dieser Hinsicht sehr pragmatisch: Sie denkt nur an ihre eigenen Grenzen und wie sie diese festigen kann. Deswegen müssen wir die EU immer wieder daran erinnern: Die rassistische Rede des Präsidenten im Februar war kein Einzelfall. Vielmehr geht der rassistische Diskurs bis heute weiter.
Ein weiteres aus EU-Sicht zentrales Thema bei den Verhandlungen ist die beschleunigte Rückführungen tunesischer Staatsbürger*innen.
Darüber schweigt sich die Regierung völlig aus. Das war in der Vergangenheit schon so. Die meisten Rückführvereinbarungen mit europäischen Ländern sind informell oder werden nicht veröffentlicht – so wie die Vereinbarung mit Deutschland. Es gibt kaum offizielle Verträge oder Abkommen. Fehlende Transparenz kennzeichnet übrigens die gesamte Kooperation zwischen EU und Tunesien im Migrationsbereich. Das erschwert unsere Arbeit als kritische Zivilgesellschaft enorm. Es ist traurig, dass die EU, die sonst immer Transparenz einfordert, dieses undurchsichtige Spiel mitspielt.
Tunesien ist das Land, aus dem 2022 am meisten Menschen an Italiens Küsten gelandet sind. Was sind die Gründe dafür?
Tunesien befindet sich seit Jahren in einer sich verschärfenden Wirtschaftskrise. Der Staat hat massive Zahlungsprobleme und kann selbst die Subventionierung von Grundnahrungsmittel wie Brot nicht mehr leisten. Das führt dazu, dass das Leben immer teurer wird und viele Menschen nicht mehr wissen, wie sie lebensnotwendige Ausgaben decken sollen.
Dazu kommt ein zunehmend anti-demokratisch agierender Staat. Präsident Saied hat seit Juli 2021 die unabhängige Justiz weitgehend ausgeschaltet. Die politische Opposition und eine kritische Zivilgesellschaft sind Saied ein Dorn im Auge. Er bedroht sie, lässt sie gerichtlich verfolgen oder einfach wegsperren. Der demokratische Handlungsspielraum wird immer enger. Viele haben Angst.
In dieser Situation sehen viele Tunesier*innen die Emigration als einzige Möglichkeit, den immer schwierigeren Bedingungen in der Heimat zu entfliehen. Das betrifft vor allem junge Menschen. Unter ihnen ist der Aufbruch Richtung Europa zu einer Art Trend geworden. Wir sehen, dass sich unter den Menschen, die in die Boote steigen, immer mehr junge Frauen und auch Kinder befinden.
Wie sähe eine verantwortungsvolle europäische Politik angesichts der schwierigen Situation in Tunesien aus?
Die EU sollte internationale Vereinbarungen in Bezug auf Menschenrechte respektieren. Ihr derzeitiges Agieren spielt der Regierung in die Hände, die immer autoritärer agiert. Sie beschneidet nicht nur die Rechte von Migrant*innen und Geflüchteten, sondern bekämpft auch die eigene Zivilgesellschaft. Anstatt diesen Kurs zu unterstützen, wäre es wichtig, dass Deutschland und die EU sich nachdrücklich für die Wiederaufnahme demokratischer Reformen in Tunesien engagieren.
Fatma Raach, Ph. D., ist Assistenzprofessorin für internationales Recht an der Universiät von Jendouba und Mitglied des „Laboratoriums für internationales Recht“ der Universität von Karthago. Sie ist an zahlreichen Forschungsprojekten beteiligt, die die Folgen der Externalisierung des europäischen Migrationsregimes für Tunesien und andere afrikanische Länder untersuchen. Sie war zudem Projektleiterin des Projekts „Legal Clinics on Migration“, welches den Zugang von Migrant*innen und Asylsuchenden zum Justizsystem verbessern möchte.
Fatma Raach ist Ko-Autorin einer gemeinsamen Publikation von miseroer und Brot für die Welt, welche die Folgen der bisherigen EU-Migrationspartnerschaft mit Tunesien analysiert. Die Publikation wird im Laufe des Sommers veröffentlicht. Eine erste Publikation in der Reihe zu EU-Migrationspartneschaften mit Drittländern ist bereits erschienen, nämlich zum Niger.