Was nehmen wir mit, wenn wir unsere Heimat verlassen? Egal, ob der Aufbruch überstürzt oder geplant erfolgt – ein Handy ist fast immer dabei. Auf der Flucht ist es oft die einzige Möglichkeit, mit Familie und Freund:innen Kontakt zu halten. Dazu enthält es nützliche Adressen und Namen entlang der Reiseroute. Und die auf einem Smartphone gespeicherten Alben oder Apps enthalten Erinnerungen und wichtige Dokumente. Mit Internetzugang dienen Smartphones außerdem zur Informationsbeschaffung, Übersetzungshilfe oder für finanzielle Transaktionen. Das Smartphone ist zu einem beinahe unverzichtbaren Hilfsmittel für Menschen auf der Flucht geworden.
Gerade darum sind Smartphones von Migrant:innen und Geflüchteten auch ins Visier von Polizei-, Grenz- und Migrationsbehörden geraten. Signale von Mobiltelefonen werden auf hoher See oder an einer Landgrenze geortet, um die Menschen an der Einreise zu hindern oder zumindest polizeilich zu dokumentieren. Die Beschlagnahmung von Mobiltelefonen ist zur gängigen, höchst zweifelhaften Praxis von Grenzpolizei und Asylbehörden geworden. Auch in Deutschland. Polizei und Behörden lesen Daten aus und speichern diese, um mutmaßliche Schleuser:innen oder andere Helfende zu ermitteln, oder die Identität ihrer Besitzer:innen zu überprüfen. Dabei werden auch persönlich sensible Daten erfasst.
Noch schlechter dran sind Geflüchtete auf der Balkanroute zwischen Griechenland und Slowenien. Dort werden Smartphones durch Behörden oder maskierte Angehörige von Milizen oft grundlos zerstört, wie die Brot für die Welt-Partnerorganisation Border Violence Monitoring berichtet. Damit wollen die Grenztruppen dafür sorgen, selbst straflos zu bleiben. Denn ohne die Kameras ihrer Telefone können Geflüchtete die rechtswidrige und oft brutale Behandlung kaum dokumentieren und juristisch dagegen vorgehen.
Auch Menschen, die sich für Geflüchtete und Migrant:innen engagieren, werden in einigen Staaten über ihr Smartphone ausgeforscht. Polizei oder Geheimdienste dringen in die Geräte mit Trojanerprogrammen ein und verschaffen sich so Zugang zu allen darauf befindlichen Daten und Anwendungen. Das Telefon wird auf diese Weise zur Wanze in der Hosentasche. Bekannt wurde ein solcher Angriff etwa in einem Ermittlungsverfahren gegen Seenotretter:innen in Italien.
Auch Menschenhändler:innen machen sich die Kommunikation per Smartphone zunutze. Sie verschicken per Messenger-Dienste Erpresservideos von gekidnappten Migrant:innen an Familienangehörige, um Lösegeld zu erpressen. Eine Brot für die Welt-Partnerorganisation (aus Sicherheitsgründen anonym) versucht seit Jahren, diese Netzwerke in Libyen offenzulegen.
Gleichzeitig können Handys und Smartphones auch Leben retten: Flüchtende und Migrant:innen, die auf immer gefährlicheren Routen die Sahara durchqueren, können das Notruftelefon von Alarm Phone Sahara kontaktieren, einem nigrischen Brot für die Welt-Partner. 24 Stunden jeden Tag sind die Mitarbeitenden erreichbar, um Rettungsaktionen einzuleiten oder Vermisste zu suchen.
Wie verändern sich Flucht und Migration im digitalen Zeitalter? Klar ist: Der starke Zugriff von Sicherheitsbehörden auf Handys erfolgt im Kontext einer zunehmenden Militarisierung von Migrationspolitik, die Migrant:innen als Sicherheitsrisiko definiert. Diese Perspektive prägt nicht nur die Politik an den europäischen oder nordamerikanischen Außengrenzen, sondern hat sich entlang der gesamten Flucht- und Migrationsrouten etabliert. Mit der zunehmenden Gewalt, die diese Entwicklung mit sich bringt, haben Flüchtende, Migrant:innen und Partnerorganisationen von Brot für die Welt gleichermaßen zu kämpfen.
Begleitend zu dem Web-Dossier ist ein Bildungsmaterial für Jugendliche ab 14 Jahren erschienen. Anhand des Handys werden die Flucht und ihre Gefahren für Jugendliche nachvollziehbar.
Smartphones und darauf installierte Apps sind für flüchtende Menschen wichtige Instrumente, um schwer passierbare Routen oder Grenzübergänge zu überwinden. Um sie daran zu hindern, benutzen jedoch auch Polizei- und Grenzbehörden die Mobiltelefone von Geflüchteten – als Peilsender.
So ist nach Angaben von Airbus beispielsweise die Drohne „Heron 1“, die im Mittelmeer eingesetzt wird, mit Technik zur Ortung von Mobil- und Satellitentelefonen ausgerüstet. Frontex selbst bestreitet dies bislang, doch laut Airbus besitzt die Drohne sogenannte COMINT-Sensoren. Diese Abkürzung stammt aus dem Militär und steht für „Communication Intelligence“, gemeint ist die Erfassung oder Auswertung von Telefonverbindungen zur Informationsgewinnung. So ist die Ortung auch nachts oder bei schlechtem Wetter möglich, anders als bei Tages- oder Nachtsichtkameras und Radargeräten. Die Ergebnisse der durch Airbus geflogenen Drohnenaufklärung werden per Satellit in Echtzeit ins Frontex-Hauptquartier in Warschau gestreamt.
Bald könnten Mobiltelefone auch mithilfe von Minisatelliten aus dem Weltraum überwacht werden. Frontex vergibt für diese neue Technik zum Aufspüren von Satellitentelefonen Verträge über mehrere Millionen Euro. Auch Boote mit Geflüchteten könnten auf diese Weise geortet werden, sofern die Menschen an Bord entsprechende Geräte für Notfälle auf See mitführen. Hersteller der Technik sind Firmen, die sonst Militär und Geheimdienste beliefern.
Mit einem ähnlichen Ziel hat die EU-Kommission auch das Projekt Foldout für die Überwachung an den Landgrenzen finanziert. Bei Foldout haben das Austrian Institute of Technology, der französische Rüstungskonzern Thales sowie Grenzpolizeien verschiedener Länder das Zusammenspiel von kleinen und großen Drohnen, Hubschraubern und Satelliten beim Grenzschutz erprobt. In dieser Kaskade aus Überwachungsgeräten sind auch Sensoren am Boden integriert, um in der Nähe befindliche Telefone zu ermitteln. Wird dort ein Telefon in einer Funkzelle festgestellt, werden Menschen automatisch geortet und können aus der Luft verfolgt werden.
Im Sommer 2022 wurde die Technik am griechisch-türkischen Grenzfluss Evros und im grenznahen Wald in Bulgarien ausprobiert. Die Region ist der Ausgangspunkt für viele Geflüchtete und Migrant:innen, die auf dem Landweg über die sogenannte Balkanroute Länder wie Schweden oder Deutschland erreichen wollen.
„Wie viele Menschen hat Algerien in der Wüste ausgesetzt – 170?“ Azizou Chehou sitzt in einem überdachten Innenhof in der Wüstenstadt Agadez und telefoniert. Wie so oft. Als Koordinator des Aktivistennetzwerks Alarm Phone Sahara (APS) nimmt er einen Großteil der Anrufe entgegen, die das Alarm Phone jeden Tag erreichen. Wie gerade aus dem Grenzgebiet zwischen Niger und Algerien, wo seine Mitstreiter:innen versuchen, in der Wüste ausgesetzte Menschen zu retten.
Kaum hat Chehou aufgelegt, erhält er auf seinem Smartphone Fotos von aus Algerien in die nigrische Wüste abgeschobenen Menschen. Die Fotos zeigen, welches Unrecht sich täglich ereignet. Es heißt immer wieder, in der Sahara würden mehr Migrant:innen umkommen als im Mittelmeer. Genaue Zahlen gibt es jedoch nicht. Seit die EU der Migration im Niger Richtung Nordafrika den Kampf angesagt hat, weichen Migrant:innen auf immer gefährlichere Routen aus. Oft verlieren sich ihre Spuren im Wüstensand. Ob sie verdursten oder in die Fänge von Menschenhändlern geraten sind – wer kann das schon überprüfen?
„Uns war klar, wir müssen was tun“, erklärt Chehou. „So wie das Alarm Phone die Seenotrettung im Mittelmeer koordiniert, wollen wir in der Sahara Leben retten, Unrecht dokumentieren, und Unterstützung für Migrant:innen anbieten.“ Das Smartphone von APS ist dabei das zentrale Medium, bei dem Informationen zusammenlaufen: über Gestrandete in Not, über medizinische Notfälle, über entführte Frauen oder die neuesten Abschiebezahlen aus Algerien. APS hat dafür ein weitverzweigtes Netzwerk von Unterstützer:innen aufgebaut. Menschen, die entlang der Migrationsrouten in der Wüste leben und arbeiten, oder eng mit den migrantischen Communities in den Dörfern verbunden sind. Doch auch Migrant:innen in Not wählen die Nummer – oder Familienangehörige, die verzweifelt ihre vermissten Töchter oder Ehemänner suchen.
Oft gelingt es APS, die Spuren von Vermissten zu verfolgen. Die Aktivist:innen konnten außerdem schon mehrfach Frauen aus den Fängen von Menschenhändlern und Zwangsprostitution befreien. Doch die Fälle der in Not geratenen Menschen nehmen zu. „Das kann so nicht weitergehen“, sagt Azizou Chehou von Alarm Phone Sahara. „Die menschenverachtende Politik der EU und der Maghreb-Staaten gegenüber den Migrant:innen muss endlich aufhören.“
In einer gemeinsamen Publikation mit Misereor analysieren wir die Rolle der EU bei der Implementierung einer restriktiven Migrationspolitik in Niger.
Alarm Phone Sahara ist Teil des Alarm Phone Netzwerkes, das wir auch in diesem Kapitel vorstellen.
Libyen ist eine Hochburg des Menschenhandels. Wer in den Lagern der Menschenhändler interniert ist, ist diesen vollständig ausgeliefert. Kommunikation ist nicht möglich. Ausgenommen: brutale Erpresservideos, die die Menschenhändler an Angehörige der Internierten versenden.
“We [the human traffickers] take you, we confiscate your phone. We see numbers on your phone and we call those numbers. We say: “Do you know this person?” “Yes, I know him very well.”[…] “So you have to call his parents and tell them he is in prison.” There you go. They send a video, a bad video where [the parents can see] the person getting hit, getting beaten up. He screams. He is tied up. So we tell them: “The amount [of the ransom], you bring it to this place.” It’s like what we used to see in the movies. And then if the parents say they don’t pay, we’ll kill you that’s all.”
[Interviewauszug aus dem Buch Mirjam van Reisen et al. (ed.): Enslaved: Trapped and Trafficked in Digital Black Holes: Human Trafficking Trajectories to Libya, S.536]
Mobiltelefone erleichtern Flucht- und Migrationsbewegungen von Menschen. Doch auch Menschenhändler:innen nutzen sie und haben neue, brutale Formen des Menschenhandels geschaffen: die Internierung und Folter von Flüchtenden, um Lösegeld von deren Familienangehörigen zu erpressen. Seit Beginn der Nullerjahre hat sich diese Praxis zuerst auf der Sinai-Halbinsel verbreitet und dann insbesonders nach Libyen verlagert.
„Informationskontrolle ist ein entscheidendes Merkmal des Menschenhandels in Libyen“, erklärt Sam Clark von einer Brot-für-die-Welt-Partnerorganisation (aus Sicherheitsgründen keine Nennung). Die Menschenhändler konfiszieren die Mobiltelefone der Geflüchteten und Migrant:innen, sodass diese keine unabhängige Information mehr empfangen oder versenden können. „Die Betroffenen leben in digitalen schwarzen Löchern“, so Clark.
Das Leben in den Lagern der Menschenhändler ist an Grausamkeit kaum zu überbieten: Schläge, Folter, Zwangsarbeit, Überfüllung, Enge, katastrophale Essensversorgung – die Liste schwerer Menschenrechtsverletzungen ist lang. Besonders dramatisch ist die Lage für Frauen. Fast jede Frau, die in die Fänge der Menschenhändler gerät, wird vergewaltigt oder zur Prostitution gezwungen.
Dass sich die Menschenhändlernetzwerke in Libyen in den letzten Jahrzehnten etablieren konnten, liegt auch an der Politik der EU. Sie versucht mit allen Mitteln zu verhindern, dass Menschen über das Mittelmeer nach Europa gelangen – und arbeitet dabei mit zweifelhaften Akteuren wie der libyschen Küstenwache zusammen. „Viele der Migrant:innen, die die libysche Küstenwache abfängt, landen in Händen von Menschenhändlern“, berichtet Sam Clark. „Das nimmt die EU billigend in Kauf.“
Dass aus den Internierungslagern nur wenige Informationen und so gut wie keine Bilder gelangen, spielt der EU zusätzlich in die Hände. So gibt es nur wenig öffentlichen Druck, etwas gegen die menschenrechtswidrigen Zustände in Libyen zu unternehmen. „Wie kann es sein, dass die EU jeden Winkel ihrer Außengrenzen mit modernsten Technologien überwacht und zugleich blinde Flecken in Libyen existieren, über die wir so gut wie gar nichts wissen?“ so Clark.
Valeria Hernandez* (echter Name der Redaktion bekannt) hat ein Problem. Vor Monaten ist sie mit ihrer Familie vor der grassierenden Gewalt in Honduras geflohen. Bisher ging alles gut. Über Guatemala haben sie es nach Mexiko geschafft. Auch der Weg von der Südgrenze in den Norden Mexikos verlief weitgehend problemlos. Doch dann geriet die Familie in die Fänge einer kriminellen Bande. Diese hatte ihr ursprünglich Hilfe angeboten, doch jetzt wollen sie nur eines: Geld. Sonst kommen Valeria Hernandez und ihre Familie nicht mehr frei.
Doch Geld hat die Familie schon lange nicht mehr. Immer wieder hat sie in den vergangenen Wochen ihre Familie in Honduras per Messenger angeschrieben, wenn das Geld fehlte, um ein Busticket oder eine Unterkunft zu zahlen. Meist bekam sie das Geld schnell, per Überweisung auf dem Smartphone. Apps ermöglichen Geldtransfers innerhalb von Minuten und ohne Aufwand. Doch das nützt nicht nur Migrant:innen. Auch kriminelle Netzwerke nutzen diese Form des Geldtransfers, um beispielsweise an Lösegeld zu kommen, das sie von Familienangehörigen von Flüchtenden erpressen.
Familie Hernandez hat Glück. Wieder kratzen Freunde und Familie in Honduras Geld zusammen und überweisen es an die Erpresser. Valeria Hernandez und ihre Familie kommen frei. Und schaffen es in die USA. Nun sind sie es, die Geld in die Heimat überweisen – natürlich per Handy. Die sogenannten Rücküberweisungen sind ein wichtiger Beitrag für das Einkommen vieler Familien in Ländern des globalen Südens. In vielen dieser Länder machen Rücküberweisungen einen beträchtlichen Teil der Wirtschaftsleistung eines Landes aus – und übersteigen das Geld, das als „Entwicklungshilfe“ ins Land kommt, bei weitem.
Weltweiter Spitzenreiter bei Empfang von Rücküberweisungen ist Indien mit umgerechnet 89 Milliarden US-Dollar im Jahr 2022, gefolgt von Mexiko mit 54 Milliarden US-Dollar. Seit 2010 hat sich die Geldmenge, die Migrant:innen in ihre Heimat Mexiko schicken, fast verdreifacht. Der Boom dürfte auch Folge des Siegeszugs des Smartphones sein.
Luis erklärt, wie ihm die Rücküberweisungen von Familienangehörigen für sein Leben in Mexiko Stadt helfen:
Wer auf der Flucht Land- oder Seegrenzen überwinden will, benötigt dafür in aller Regel Hilfe. Das Smartphone ist ein zentrales Instrument, um sich diese Hilfe zu beschaffen – sei es in Form von Informationen zu Routen oder der Kontaktaufnahme mit Schleuserdiensten. Egal ob sie aus kommerziellen, humanitären, politischen oder kriminellen Motiven handeln: Schlepper oder Schleuser bewerben ihre Angebote meist in sozialen Medien, vor allem auf Facebook.
Angelica, die von El Salvadorin die USA migriert ist, erklärt wie sie über das Smartphone Schleuser kontaktiert:
Die EU-Polizeiagentur Europol hat zur Entdeckung derartiger Angebote online eine Meldestelle eingerichtet. Werden mögliche Schlepperdienste identifiziert, meldet Europol die Postings an Facebook, Google, YouTube oder andere Internetdienstleister. In den meisten Fällen kommen die Firmen der damit verbundenen Löschbitte nach. Eine richterliche Anordnung braucht es dazu nicht.
Anfangs richtete die Meldestelle ihren Blick vor allem auf Mittelmeerfahrten mit großen, ausgemusterten Frachtschiffen. Diesen Fluchtweg nutzten nach Ausbruch des Bürgerkrieges besonders viele Syrer:innen. Die Frachtschiffe waren im Vergleich zu den kleinen und oft seeuntauglichen Holzbooten eine relativ sichere Fluchtmöglichkeit. Europol half dabei, diese Tür nach Europa zu verschließen.
Nachdem Belarus vor zwei Jahren visafreie Einreisen aus Ländern wie dem Irak und die Weiterreise Richtung EU ermöglichte, begann Europol auch diese Fluchtrouten zu erschweren. 2021 hat die Meldestelle mindestens 455 Accounts in sozialen Medien, die für „Schleuserdienste von Belarus nach Europa werben“, zur Löschung an Internetdienstleister gemeldet.
Mittlerweile verfolgt Europol auch die Fluchthilfe über den Ärmelkanal nach Großbritannien. Dabei sucht die Meldestelle beispielsweise nach verdächtigen Angeboten für den Verkauf von Schlauchbooten oder Rettungswesten.
Mit dieser Kontrolle werden Grenzübertritte nach Europa nicht verhindert, aber weiter erschwert. Die Kriminalisierung treibt die Preise für Fluchthilfe in die Höhe, die Geflüchteten werden auf noch risikoreichere Routen gezwungen.
0033486517161. Viele Menschen, die sich auf die gefährliche Überfahrt nach Europa machen, haben diese Nummer dabei. Es ist die Hotline des Alarm Phones. Aktivist*innen aus Europa und Afrika haben es vor zehn Jahren ins Leben gerufen. Seither sind sie rund um die Uhr für Menschen in Seenot erreichbar. Sie haben mehr als 7.000 Booten geholfen. Viele konnten so vor drohenden Katastrophen gerettet werden. Während der Notrufe wurden die Aktivist*innen aber auch schon oft Zeug*innen von gewaltsamen Pushbacks oder unterlassener Hilfeleistung mit tödlichem Ausgang.
Alarm Phone ist dabei viel mehr als ein Instrument der Nothilfe. Es ist die Stimme der Solidarität im Mittelmeer. Das illustrieren die beiden folgenden Berichte der Aktivist*innen.
Wenn wir mit Reisenden auf einem in Not geratenen Boot sprechen, haben wir nur unsere Stimmen und oft nur sehr kleine Zeitfenster. Ein Gespräch mit „Hallo mein Freund“ zu beginnen und zu sagen, wer wir sind, ist selbstverständlich geworden. Auf diese Weise sagen wir „Willkommen“ in einem Moment, in dem alles blockiert zu sein scheint. Diese Begrüßung macht klar, dass wir weder die Polizei noch die Küstenwache sind. Du und ich sind es, die jetzt sprechen. Wir nehmen uns Zeit herauszufinden, was jetzt wichtig ist.
Mitunter haben wir Schwierigkeiten, uns gegenseitig zu verstehen – nicht nur wegen der Sprachbarrieren. Not und Todesangst können die Stimmen schrill und unverständlich machen. Panik kann Worte bedeutungslos machen. Eine der wichtigsten Aufgaben ist es daher, zuerst die Spirale der Angst zu durchbrechen, damit Sprechen und Verstehen möglich werden.
Es gibt Gespräche, die nur drei Minuten oder weniger dauern. Etwa, wenn eine Frau in das Telefon ruft: „Halleluja, sie sind schon da! Wir sind in Sicherheit!“ Der Klang des Siegesrufs „BOOOOZA“, wenn eine Gruppe gerade in Spanien angekommen ist, ist etwas, was die meisten von uns nie vergessen werden. Manchmal kommen im Chat ein „Thank you, we are safe“ mit einem Daumen-hoch oder ein paar Smileys.
Manchmal ist es auf einmal still. Der Akku ist leer oder das Telefon wurde ins Meer geworfen, um zu vermeiden, dass die Küstenwache identifizieren kann, wer telefoniert hat. Manchmal wird auch die Stimme selbst durch das Wasser des Meeres zum Schweigen gebracht. Das sind die Momente, in denen die Stille dein Herz brechen kann.
Selten und nur mit Glück haben wir die Zeit, uns zu verabschieden. Um „Willkommen in Europa“ oder „Beim nächsten Mal, inshallah, wirst du es schaffen“ zu sagen – und Kraft zu wünschen und mit unserer Stimme so viel Energie wie möglich weiterzugeben.
Dieser Einblick basiert auf einem Text auf der Homepage von Alarm Phone.
Das wackelige Handyvideo zeigt einen Mann, der wimmernd und von Schmerz gepeinigt über ein Feld humpelt. Dann zoomt die Aufnahme in den Hintergrund: In einem Graben und dahinter stehen Männer, sie sind maskiert und tragen unterschiedliche Uniformen. Auch wenn die Bilder pixelig sind, ist klar zu erkennen: Ein Maskierter schlägt die Menschen mit einer Art Peitsche, der andere mit einem langen Stock. „Sie schlagen dich überall hin. Auf Kopf, Beine, Arme – überall“, erzählt einer der Betroffenen später.
Das, was das Video zeigt, geschieht mitten in Europa an der Grenze von Bosnien-Herzegowina zu Kroatien. Die Geflüchteten werden von kroatischen Sicherheitskräften gefangen genommen, in einem Transporter an die Grenze gekarrt und über die Grenze geprügelt. Einer der Betroffenen schafft es, ein Video zu drehen. Eine Ausnahme, denn in der Regel werden vor Pushbacks Handys beschlagnahmt und zerstört. Es soll keine Zeugnisse geben von den brutalen, illegalen und doch zur Normalität gewordenen Pushbacks an den EU-Außengrenzen.
Das Aktivist:innennetzwerk Border Violence Monitoring Network (BVMN), eine Partnerorganisation von Brot für die Welt, will das Unrecht der Pushbacks öffentlich machen. BVMN besteht aus 13 lokalen Organisationen, die neben der Dokumentation von Pushbacks auch Nothilfe für Migrant:innen entlang der Balkanroute von Griechenland bis Österreich leisten. Sie haben eine interaktive Datenbank zu Pushbacks in Südosteuropa angelegt und veröffentlichen monatliche Berichte zu den schweren Menschenrechtsverletzungen, die damit einhergehen. „Rund 90 Prozent der Menschen, mit denen wir sprechen, wurden Opfer von Folter oder anderer Formen von Gewalt“, berichtet Claudia Lombardo Diéz von BVMN.
Smartphones spielen eine zentrale Rolle, um diese Übergriffe zu dokumentieren. Handyvideos oder Fotos von Opfern, die während der Pushbacks oder illegaler Inhaftierungen aufgenommen wurden, helfen nicht nur, diese Praktiken bekannt zu machen. In detektivischer Kleinarbeit analysieren die Aktivist:innen die Bilder auch, um Rückschlüsse auf die genauen Orte der Verbrechen und die beteiligten Täter zu ziehen. Diese Infos werden genutzt, um Eingaben bei der EU oder UN-Gremien zu machen, oder Klagen vor Gericht einzureichen.
„Die systematische Zerstörung von Smartphones erschwert unsere Arbeit“, sagt Lombardo Diéz. „Für die betroffenen Migrant:innen sind die Folgen aber viel schlimmer.“ Nimmt man ihnen ihr Handy, beraubt man sie der Möglichkeit, mit Familie, Weggefährten oder Zurückgelassenen in der Heimat zu kommunizieren und ihr weiteres Vorgehen zu planen. Auch persönliche Andenken wie Fotos oder Videos werden ihnen so gewaltvoll genommen.
Die Zerstörung der Handys an den EU-Außengrenzen dient nicht nur der Vernichtung von Beweismitteln. Sie ist auch Teil der psychologischen Gewalt, mit der die EU Geflüchtete und Migrant:innen auf der Balkanroute zum Umkehren zwingen möchte.
Wer Handydaten von Menschen ausliest, greift tief in deren Persönlichkeitsrechte ein. Deshalb gibt es dafür hohe Auflagen, die Verhältnismäßigkeit und Datenschutz betreffen. Doch für Geflüchtete gelten diese anscheinend nicht. So liest das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) laut der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) die Mobiltelefone vieler Asylsuchender aus und erstellt eine Kopie von darauf befindlichen Inhalten. Dies soll die Feststellung von Identität und Staatsangehörigkeit erleichtern. Auch Ausländerbehörden dürfen die Datenträger von Personen ohne Papiere durchsuchen, um das Zielland einer Abschiebung zu ermitteln.
Diese Handyauswertung verletzt jedoch das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Angeblich können die Betroffenen selbst entscheiden, ob sie den Behörden die Passwörter ihrer Geräte nennen. Oft erhalten sie nach Angaben der GFF aber keine korrekte Belehrung zu der Durchsuchung, auch bleibt unklar, wie die Daten verarbeitet werden. Im Asylverfahren sind die Antragsteller:innen der machtvollen Behörde ausgeliefert, sie haben Angst, dass ihnen Leistungen gekürzt oder sogar ihr Asylantrag nicht mehr bearbeitet wird, wenn sie ihre Telefone nicht herausgeben.
Die Ämter prüfen, ob im Adressbuch oder bei Anrufen und Nachrichten der Asylsuchenden häufig Ländervorwahlen vorkommen, die dem in der Anhörung genannten Heimatland entsprechen. Auch mit dem Handy besuchte Webseiten werden nach derartigen Länderkennungen durchsucht. Aus Fotoalben ziehen die Behörden Daten, in denen der jeweilige Aufenthaltsort bei der Aufnahme gespeichert ist. Außerdem werden die Login-Namen verschiedener Apps aufgelistet.
Das Auslesen der Mobiltelefone ist teuer – allein die Software für Spracherkennung hat laut GFF 17 Millionen Euro gekostet. Dazu kommt der hohe Personalaufwand. Die Erfolge sind jedoch überschaubar: Im Zeitraum von Anfang 2018 bis August 2022 hat das BMAF 45.500 Handys ausgelesen. In nur 227 Fällen wurden dadurch Angaben von Asylbewerber:innen widererlegt, was einer Quote von 0,5 Prozent entspricht.
Das Bundesverwaltungsgericht hat am 16. Februar 2023 geurteilt, dass dieses regelmäßige Auslesen von Mobiltelefonen vom BAMF nicht vom Asylgesetz gedeckt ist. Das Gericht gab damit der Klage einer 44-jährigen Afghanin statt, die zusammen mit der GFF vor zwei Jahren gegen die Handy-Auswertung vor das Verwaltungsgericht in Berlin gezogen war. Schon das Berliner Gericht hielt die Maßnahme für rechtswidrig.
Allerdings haben Bundeskanzler Olaf Scholz und die Ministerpräsident:innen der Länder im Mai 2023 bereits angekündigt, dass das frühzeitige Auslesen von Mobiltelefonen zur Identitätsklärung weiterhin möglich sein soll. Der Bund werde „den Anpassungsbedarf prüfen, der sich aus der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtshofs ergibt“.Anders gesprochen: wenn die Handydatenauslesung nicht rechtskonform ist, ändern wir einfach das Gesetzt. Ende 2023 hat der Bundestag das Gesetz nun dahingehend geändert, dass die massenhafte Datenauslesung nicht nur legalisiert, sondern sogar ausweitet. Zukünftig können auch in Clouds gespeicherte Daten gespeichert werden. Asylsuchende, die ihr Handy nicht freiwillig aushändigen, droht eine Hausdurchsuchung.
Angesichts des massiven Eingriffs in die Persönlichkeitsrechte, der hohen Kosten und der Ineffektivität der Handyauslesungen ist diese Entscheidung nicht nachzuvollziehen.
Mobiltelefone hinterlassen Spuren. Diese ermöglichen nicht nur Rückschlüsse auf Fluchtrouten einzelner Menschen. Die Daten Tausender zusammengefasst erlauben Echt-Zeit-Darstellungen aktueller Flucht- und Migrationsbewegungen sowie Prognosen über solche in der Zukunft.
Netzbetreiber erfassen routinemäßig, wenn ein Anruf erfolgt oder eine SMS von einem Mobiltelefon gesendet wird. Diese Verkehrsdaten enthalten den Standort des Funkturms und einen Zeitstempel. Noch mehr Datensätze entstehen durch die Internetnutzung von Smartphones – ohne aktives Zutun permanent im Hintergrund, wenn Nutzer:innen die Aufzeichnungen von GPS-Koordinaten oder WLAN-Netzen nicht deaktivieren. Diese Informationen können durch weitere Datenquellen angereichert werden, beispielsweise Geldüberweisungen per Mobiltelefon.
Die Anbieter von Mobilfunkdiensten in den einzelnen Ländern stellen diese Daten anonymisiert zur Verfügung. Gesammelt ermöglichen sie Rückschlüsse und Prognosen ganzer Migrationsbewegungen. Verwenden Behörden Daten verschiedener Mobilfunknetzbetreiber, können sie Migration auch über Nachbarländer hinweg verfolgen.
Zur Erstellung von Prognosen werten Behörden neben Bewegungsdaten auch öffentlich verfügbare Internetinhalte aus. Privatleute und Wissenschaftler:innen, aber auch Google oder das von der CIA gegründete Unternehmen Recorded Future sammeln diese Daten in sogenannten Ereignisdatenbanken. Dort haben sie vergangene Bürgerkriege, Aufstände oder Proteste, aber auch größere Fluchtbewegungen gespeichert. Mithilfe Künstlicher Intelligenz kombinieren sie archivierte und aktuelle Daten wie beispielsweise Postings in Social Media, um zukünftige Entwicklungen vorherzusehen.
Was mit den gesammelten Informationen passiert, ist abhängig von den Interessen der Datensammler:innen. Bewegungsdaten und Prognosen können in der humanitären Hilfe dazu dienen, Maßnahmen für Migrant:innen und Flüchtende zu ermitteln und planen. Sie können aber ebenso dazu verwendet werden, um repressive Maßnahmen zur Migrations- und Fluchtabwehr zu ergreifen – wie dies in der Frontex-Zentrale in Warschau geschieht. Der Frage, wer Zugriff zu welchen Daten bekommt, wird in der Migrationspolitik deswegen zukünftig eine immer wichtigere Bedeutung zukommen.
Mehr über die Arbeit von Brot für die Welt finden Sie auf unseren Themenseiten Flucht und Migration.
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