(Bonn, 25. Juli 2006). Der Evangelische Entwicklungsdienst (EED) fordert die Bundesregierung auf, im Rahmen der EU ein sofortiges Ende aller Angriffe auf zivile Ziele im Nahost-Konflikt zu verlangen. "Die internationale Libanon-Konferenz in Rom muss durch die klare Forderung nach Einhaltung des humanitären Völkerrechts helfen, weiteres Leid unter der betroffenen Zivilbevölkerung zu verhindern," erklärt EED-Vorstandsmitglied Dr. Claudia Warning.
Die Zahl der Menschen, die vor Luftangriffen auf Wohnviertel in libanesischen Städten fliehen, wächst weiter. Dort, wo Autobahnen, Stromnetze und Tankstellen zerstört sind, ist die Versorgungslage besonders kritisch. Zivilisten auf allen Seiten leiden unter den Auswirkungen der zunehmenden Gewalteskalation: Seit Monaten ist die Bevölkerung israelischer Städte und Gemeinden Angriffen durch Qassem-Raketen ausgesetzt. Der Raketenbeschuss auf Orte im Norden Israels und die Stadt Haifa hat die Bedrohungssituation für die israelische Bevölkerung dramatisch ausgeweitet.
Lokale Partnerkirchen des EED im Libanon sind inzwischen zu Anlaufstellen für Teile der notleidenden Bevölkerung geworden. Der Middle East Council of Churches (MECC) etwa versorgt Flüchtlingsfamilien mit Lebensmitteln und Medikamenten. Generalsekretär Guirgis Saleh berichtet, dass in der christlichen Gemeinde Beshwet in der Bekaa-Ebene eine kirchliche Behinderteneinrichtung zur Sammelunterkunft umfunktioniert wurde. Dort können sich Familien nun mit Babynahrung, Bettwäsche und Windeln eindecken. Auch in der EED-geförderten Johann Ludwig Schneller Schule (JLSS) in Khirbet Kanafar haben fast 300 Flüchtlinge Aufnahme gefunden. Fortdauernde Luftangriffe und die Zerstörung umliegender Verbindungsstraßen machen dort die Anlieferung dringend benötigter Hilfsgüter schwierig.
Die Angriffe auf bewohnte Städte und Orte im Libanon und in Israel richten sich - unter Missachtung der Grundsätze des humanitären Völkerrechts - vor allem gegen zivile Ziele wie Wohngebäude, Brücken, Straßen, Flughäfen und treffen damit vor allem Zivilisten. Israels Regierung hat die Verantwortung, ihre Bevölkerung gegen diese Angriffe zu schützen. Sie hat ebenfalls die Pflicht, sich mit geeigneten Mitteln um die Befreiung verschleppter Soldaten zu bemühen.
Jede Anwendung militärischer Gewalt ist aber ausschließlich innerhalb der Grenzen zulässig, die durch das humanitäre Völkerrecht gezogen sind: "Es ist enorm wichtig, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt wird", sagt Claudia Warning. "Zudem müssen Zivilisten und die zivile Infrastruktur unter allen Umständen geschont werden".
Der EED hält Verstöße gegen diese beiden Grundprinzipien des Rechts bewaffneter Konflikte nicht für hinnehmbar: "Sie bringen unerträgliches Leid für Hunderttausende Menschen, die nicht an den Kampfhandlungen beteiligt sind", so Claudia Warning. "Die willkürliche Bombardierung und der Beschuss von Wohngebäuden und Infrastruktur, die nicht unmittelbar für militärische Handlungen genutzt werden, müssen sofort beendet werden". Alle Parteien müssten umgehend Kriegshandlungen gegen die Zivilbevölkerung einstellen, damit der Boden für Waffenruhe und Verhandlungen bereitet werden könne.
Jessica Montell, die Direktorin des EED-geförderten israelischen Menschenrechtszentrums B’Tselem, unterstreicht: "Das humanitäre Völkerrecht verbietet die Einschüchterung und Terrorisierung von Zivilisten ebenso wie Kollektivstrafen." Wie viele Menschenrechtler in Israel fürchtet sie, dass durch solche Maßnahmen der Konflikt nur weiter verschärft wird. Menschen, denen die völkerrechtlichen Mindeststandards der Menschlichkeit vorenthalten werden, werden oft radikalisierten Kräften in die Arme getrieben. Der Situation hilflos ausgesetzt, verlieren viele das Vertrauen, dass die Staatengemeinschaft die Kraft und das Interesse hat, sie wirkungsvoll vor existentieller Bedrohung und Entrechtung zu schützen. Dies gilt nicht nur für den Libanon: Seit den jüngsten Angriffen auf zivile Ziele im Gazastreifen stehen auch dort viele palästinensische Familien ohne Strom, Trinkwasser und Lebensmittel, ohne Medikamente und Benzin da.
Die Partnerorganisationen des EED in Israel, den palästinensischen Gebieten und dem Libanon verbindet das Ringen um gewaltfreie Formen der Konfliktbearbeitung. Willkürliche Gewaltanwendung gegen Zivilisten schürt Verzweiflung und Hass, der die Stimme dieser gemäßigten zivilgesellschaftlichen Gruppen zu ersticken droht. Ohne eine starke gesellschaftliche Rolle dieser Kräfte ist aber eine langfristige Stabilisierung und friedliche Entwicklung der Region undenkbar.
"Wir fordern die Bundesregierung auf, gemeinsam mit der EU entschlossen dafür einzutreten, ein sofortiges Ende aller Angriffe auf Zivilisten und zivile Ziele zu erreichen", sagt Claudia Warning. "Darüber hinaus muss die internationale Gemeinschaft darauf bestehen, dass alle Konfliktparteien bei ihren Kampfhandlungen das humanitäre Völkerrecht einhalten". Vom israelischen Militär sei insbesondere die strikte Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu verlangen.
Der EED ruft die deutsche Regierung auf, im Rahmen der EU von Israel Sicherheitsgarantieren für Hilfstransporte zu verlangen, um sicherzustellen, dass EU-finanzierte humanitäre Hilfe wirkungsvoll umgesetzt werden kann. "Außerdem muss die Bundesregierung alle Möglichkeiten prüfen, wie sie das Bemühen um eine baldige Waffenruhe und die Aufnahme von Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien unterstützen kann", so Warning.